Sheela Gowda in München

Die Moral fängt bei Metall und Farbe an

Die indische Künstlerin Sheela Gowda will nicht sozialkritisch sein - ihre Installationen zeigen jedoch die enge Verflechtung von Material und Gesellschaft. Jetzt wird ihr Werk in München gewürdigt

Sheela Gowda wollte nicht mehr zurück zu unpolitischer Kunst, nachdem die nationalkonservative BJP in den 1990er-Jahren zum ersten Mal an die indische Regierung kam. Aber: Für immer Kuhmist-Künstlerin ging auch nicht, das färbt dann zu sehr auf alles andere ab. Deshalb hat Gowda die kritischen Kuhfladen, die sie davor auf Jute und Papier verschmierte, zu etwas Neuem geformt, zu Kugeln, Ziegeln oder Handabdrücken. Ohne ein Konzept, mit großem Interesse am Material. Das waren Gowdas erste Skulpturen, die ihr von der Wand entgegensprangen. Und so oder so ähnlich, mit oder ohne Mist, füllt sie seit fast 30 Jahren Räume aus.

Das Münchner Lenbachhaus, auf Installationen spezialisiert, hat der Künstlerin aus Bangalore, die auf großen Biennalen und der Documenta vertreten war, deshalb zum ersten Mal einen eigenen Raum in Deutschland gewidmet. 20 ihrer Arbeiten zogen in den unterirdischen Kunstbau des Lenbachhauses – und jetzt ersatz- und übergangsweise auch in den Cyberspace, wo "It.. Matters" digital eröffnet hat.

Aber was soll an der Kuh (und an ihrem Kot) so kritisch sein? Die Kunsthistorikerin Zehra Jumabhoy sagt, in Indien ist das Rind eine Medaille mit zwei Seiten, es gehen ganz verschiedene Bedeutungen auf seine Haut. Erstens hat in einer Hindu-Nation, wie Premierminister Narendra Modi sie errichten will, die heilige Kuh (Sanskrit: "die Unantastbare") einen politischen Rang eingenommen. Als Symbol erinnert sie daran, wer kein Teil dieser Kultur ist: Andersgläubige und ethnische Minderheiten, wie etwa die "Unberührbaren". Sie leiden noch unter ihrem Stigma aus dem abgeschafften Kastensystem. Muslime werden seit Kurzem auch wieder im Gesetz diskriminiert, während die Kuh unter dem Schutz von Staat und radikalen Kuh-Rächern steht.

Bauern tranken das Pestizid, das die Böden schädigte

Die Landwirte waren im Kastensystem zwar etwas besser gestellt, doch wirtschaftlich gesehen sind sie es, die tief im Dung stehen. Nach der Marktliberalisierung der 1990er-Jahre wurden viele Böden ausgelaugt. Klimabedingte Dürren lösen heute bei den hochverschuldeten Bauern Massensuizide aus, die seit 2016 nicht mehr beziffert werden. Einige tranken das Pestizid, mit dessen Hilfe sie ihre Kosten drücken mussten, aber letztlich den Boden schädigten.

Andere siedelten in die boomenden Städte um und arbeiten dort im Haus- und Straßenbau. Hier fand Sheela Gowda ihr nächstes heimatliches Lieblings-Material: Das klassische Teerfass, das plattgewalzt wird und als Wand für die Kurzzeit-Behausung der Arbeiter dient, wie sie überall in Bangalore zu sehen ist. Gowda plante offensichtlich mehr als ein paar Nächte darin zu verbringen. Ihr "Darkroom" (2006) hat zwei Zimmer und ist mit kolonial anmutenden Säulen aus den gleichen Fässern geschmückt. Während die Arbeiter-Hütten so zu einem kleinen Schloss erhoben werden, müssen die Gäste der Ausstellung auf die Knie gehen und kriechen - müssten sie, wenn sie nicht zu Hause vor ihren Macbooks säßen. Im Inneren des "Darkrooms" wird die perforierte Decke zum Sternenhimmel.

Die Materialgerechtigkeit einer Künstlerin

Aus den platten Fasswänden lassen sich alternativ auch acht Bandlis ausschneiden. Ein Bandli ist eine Metallschale, die in etwa den Sand fasst, den ein Mensch gut tragen kann. Je länger Gowda mit den löchrigen Stanzbutzen der Bandlis künstlerisch gearbeitet hat, desto weniger Verfremdung schien ihr nötig zu sein. Mittlerweile dokumentiert sie die einzelnen Schritte eher wie ein Do-it-yourself für Bandlis ("What yet remains", 2017). Wenn sie sich "crazy" fühlt, schiebt sie die bunten Platten noch übereinander, macht sie höchstens ein wenig sauber. Kuratorin Eva Huttenlauch nennt das die Materialgerechtigkeit von Sheela Gowda – als fingen moralische Erwägungen für die ausdrücklich nicht-sozialkritische Künstlerin bei Metall und Farbe an.

Wer mit so einem Bandli eine Arbeit auf der städtischen Baustelle fand, muss vielleicht in diesen Tagen vor Covid-19 aufs Land fliehen. Im Hinduismus ist es Brauch, den Göttern für die Heilung eines kranken Menschen und für andere erfüllte Gebete zu danken, indem man sich am Tempel den Kopf rasiert. Die Menschenzöpfe landen auf Marktplätzen und werden als Talisman an Stoßstangen gebunden; ein kleines Detail im Straßenbild, bei dem für Sheela Gowda die Arbeit von Neuem losgeht. Das war 2009 für die Venedig-Biennale. Das entstandene "Behold" ist das auffälligste Werk im Lenbachhaus, aber nicht wegen der 20 Stoßstangen, die an den Glückssträhnen hängen. Es sind die vier Kilometer Menschenhaar – mal als Netze und Raster, mal Locken und Stricke –, die den Blick fangen. Sie sind die wahren Exkremente hier. Gowda hat sie einer Verwertungskette ausgespannt, deren weiterer Verlauf die schwarzen Haare von Bangalore aus zum Bleichen nach Italien, dann um die ganze Welt sendet.

Die unwahrscheinliche Beziehung zwischen Industrie und Spiritualität

So gehen Spiritualität und Industrie bei Sheela Gowda unwahrscheinliche Beziehungen ein. Genau diese Kontextverschiebung interessiere sie auch, sagt sie. Eine Schippe absurder wird es bei den großen Gewürzmahlsteinen ("Stopover", 2012), auf die ein moderner indischer Haushalt mit Elektrogeräten nicht mehr angewiesen ist, aber die eben auch heilig sind, weshalb viele sie sich etwas ratlos vor ihre Haustür setzten. Nur mit gemischten Gefühlen trennten sie sich von den Gewürz-Geräten, die Gowda eingesammelt und per Schiff nach München verfrachtet hat. Ein Statiker musste prüfen, ob 200 Granitsteine à 350 Kilogramm nicht vielleicht das Spannungsfeld lokal/global überlasten und den Boden des Lenbachhauses zerreißen würden. Alles gut gegangen.

Nur das versprochene Nase-überall-Reinstecken (wie hat wohl diese Familie hier gewürzt?), wurde nun erstmal gestoppt. Aber für die digitale Version der Ausstellung war es ein Glücksfall, dass Eva Huttenlauch und ihr Team den Blick auf das Lokale gerichtet haben. Dass sie Sheela Gowda zu Hause in Bangalore besucht haben, sich ihre Welt erklären ließen und die Kamera draufhielten, dass sie auch später im Lenbachhaus, wo sie seit Ende Februar werkelte, mit Gowda ein paar Plauder-Szenen gefilmt haben und demnächst noch eine Podcast-Folge mit ihr hochladen wollen. So lässt sich der digitale Raum am ehesten erschließen.