Gegen 19.30 Uhr, die Sonne scheint schon flach durch den Wald, rennen vier Bläserinnen und Bläser auf das Publikum zu. Sie spielen gleich das letzte von vier gut zehnminütigen Stücken. Posaune, Tuba, Saxofon, Trompete. Andernorts sind es zwei Saxofone und eine Querflöte dazu. Und statt haarklein zu beschreiben, wie die "skulpturale" Musik von Ari Benjamin Meyers genau klingt, einem ehemaligen Schüler von Minimal-King Philip Glass, ist es für einmal treffender, die eigene, befreite Atmung zu erwähnen, die tiefen Züge, den ruhigen Puls.
In den sieben Stunden von "Shared Landscapes" bin ich dem Wald wohl nie näher gekommen als während Meyers Unterbrechungen. Ohne Kopfhörer, VR-Brille oder mächtig aufgebockter Laufschrift auf einer Lichtung.
Die Blasinstrumente stoppen scharf und der Hall bleibt mehrere Sekunden stehen. Das ist kein elektronischer Effekt, das macht, tatsächlich, der Wald. Als Raum, akustisch durchmessen und völlig neu erfahren, obwohl man bald sieben Stunden darin herumgelaufen, gelegen und ja: geschwebt ist. Noch nie so gehört.
Eine Sprache des Waldes
Und auch wenn Meyers Stücke in den Titeln mit dem Boden, den Bäumen, den Vögeln oder am Schluss mit der Luft zu tun haben, versprühen sie keine Esoterik, sie wollen keine Mimikry der Sinfonie des Waldes sein. Die Stimmführungen wären zu eng, um das viel weitere Spektrum der Tierlaute abbilden zu können. Es sind die Pausen, die plötzlichen Stöße, mal Frage-und-Antwort-Muster, mal leicht verschobene Wiederholungen, die uns abstrakt und konkret zugleich auf die Umgebung einstimmen und die Idee einer anderen Grammatik nahe legen, einer Sprache des Waldes.
Man könnte nun einwenden: Die Musik hat es leichter. Sie kann selbst auf dieser künstlerischen Wanderung mit gefühliger Theaterpädagogen-Polonaise in der Mitte einfach auf Marschmusik verzichten, ja sogar auf den Viervierteltakt. Dagegen hat es die Sprache deutlich schwerer, sich von den dominanten Konventionen ein bisschen zu verabschieden und sich der Umgebung empathisch und zuhörend zu nähern. Vielleicht sind es auch die Künstlerinnen und Künstler selbst, die von ihren erlernten Formen nicht los kommen. Drei der sieben Stücke ziehen den Tag in die Länge. Man bleibt da, weil es im Wald schön ist (und zur Premiere mindestens drei, vier Grad kühler als in der Stadt am Extremhitzetag).
So muss man unter der am besten stündlich erneuerten Schicht von Anti-Mückenspray drei Mal zu einer Art Zen-Gelassenheit gelangen, wofür der Wald immerhin der beste Ort ist (nebst den Bergen, aber nicht in Brandenburg). Man muss lächerlich manipulative, über den Kopfhörer eingeträufelte Texte aushalten und sich wundern, warum so viele Leute ohne Not tun, was man ihnen sagt.
Abschlussarbeiten bei Professor Kaegi
Man fragt sich, was der Brandenburger Bauer, der Luxusheu herstellt und den zwei Performerinnen in unseren Kopfhörern interviewen wie im Lokalfernsehen, mit dem Wald zu tun hat. Oder was den über Lautsprecher abgespielten, verrätselten Text vor einem Caspar-David-Friedrich-artigen Bild mit der Person im Rollstuhl verbindet, die zum Abschluss aber immerhin live auftrat und im für sie besonders unwirtlichen Wald um Teegespräche bat.
Das ist das Risiko des Kuratierens im performativen Bereich: Man kauft die Katze im Sack ein. Und die Themen der Stationen und die Pässe der Macher verraten auch, dass "Shared Landscapes" sehr viele Kooperationspartner hat, nicht nur einen EU-Fonds, sondern mehrere Theater und Festivals, die alle irgendwie repräsentiert sein wollen. Der künstlerische Fokus stellt sich so nicht scharf, der dramaturgische Einfluss auf einzelne Texte bleibt dagegen zu begrenzt.
Das fällt auch deshalb auf, weil Theatermacher Stefan Kaegi, der mit Caroline Barneaud aus Lausanne "Shared Landscapes" verantwortet, mit seiner Gruppe Rimini Protokoll ähnliche dokumentarische, poetische und ortspezifische Projekte in den letzten gut zwei Jahrzehnten perfektioniert hat. So wirkt es aber bisweilen, als seien es Abschlussarbeiten bei Professor Kaegi, einem eben rundum freundlichen Mann.
Der Städter, der selbst im Wald nur mit Kopfhörern herumrennen kann
Nach dem Théâtre de Vidy in Lausanne und dem Festival d’Avignon sind nun die Berliner Festspiele an der Reihe. Und da zeigt sich zwei Mal, dass sich lokale Anpassungen globaler Projekte nicht nur auf dem Papier vor den Geldgebern lohnen. Kaegi selbst eröffnet den knapp siebenstündigen Spaziergang mit einer O-Ton-Montage, die wir im Liegen mit Kopfhörern anhören. Soweit dokutheatraler Standard: Eine Psychoanalytikerin, eine brasilianische Sängerin, eine Meteorologin, ein Kind und, tatsächlich: der lokale Förster des Hangelsbacher Waldes in Grünheide bei Berlin kommen da miteinander ins Gespräch. Fast hätte ich den eloquenten Förster lieber vor Ort im Buchenhain erlebt, wie er über den Mischwald erzählt, statt schon wieder den Städter zu geben, der selbst im Wald nur mit Kopfhörern herumrennen kann.
Aber wir liegen. Und das ist die nebst der Musik zweite tolle künstlerische Entscheidung für den Rundgang: wie der Blick anders ausgerichtet wird. Erst sehen wir von unten nach oben, und zwar ganze 40 Minuten lang. Dann gibt es drei Gruppen, und wer das Glück hat, gleich im Anschluss zur Arbeit von Begüm Erciyas und Daniel Kötter zu wandern, durchläuft eine schlüssige Dramaturgie.
Wir wollen nicht zu viel spoilern, außer, dass wir den Wald da nicht von unten sehen, sondern von oben. Die Horizontale ist den Menschen, zumindest den Nicht-Mathematikern, im Alltag viel vertrauter. "Shared Landscapes" nimmt uns sanft, aber entschieden an die Hand und zeigt, wie man die Vertikale gleich stark gewichtet.
Die Mücken als milde Strafe
Kurz vor dem Abschluss mit den Bläsern waten wir aber noch eimal als vereinte Publikumsgruppe durch den Sumpf des menschlichen Versagens. Das hat nichts konkret mit Berlin zu tun, außer dass in der Senke vor der Leuchtschrift ein Tümpel die Mückenplage zur Strafe abermals intensiviert. Im Beitrag der spanischen Gruppe El Conde de Torrefiel spricht nicht Berlin, sondern gleich die Erde selbst. Die Letzte Generation ist ein Kindergarten im Vergleich, was uns hier als Laufschrift um die Ohren fliegt.
Wolkig ist hier nichts, der böse Tonfall kontrastiert wohltuend das Programm. Und die elektronischen Schocks und das Hochartifizielle wie in einer Installation der japanischen Pioniere der Gruppe Dumb Type betonen das Gemachte vieler Naturvorstellungen. Die Mücken erscheinen nun als milde Strafe.
Ich hoffe dennoch, dass die Musikerinnen, die einmal am Wegesrand im Unterholz liegen, von ihnen nicht aufgefressen werden. Denn niemand kann wie sie die Sinne schärfen für den Ort, den Raum, den Klang. Der Rest ist manchmal Rauschen.