Candice Breitz über ihre neue Videoarbeit

"Sex- und Kunsthandel haben viel gemeinsam"

Courtesy the artist
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Candice Breitz, Szene aus "TLDR", 2017

Ist Sexarbeit ein ganz normaler Job? Mit dieser Frage, die weltweit Kontroversen auslöst, beschäftigt sich Candice Breitz in ihrer neuen Videoinstallation, die in der Sektion "Unlimited" auf der Art Basel zu sehen ist. Wir haben vorab mit der südafrikanischen Künstlerin gesprochen

Candice Breitz, in Ihrer neuen Installation "TLDR" geht es um die Entkriminalisierung von Sexarbeit. Was beschäftigt Sie an diesem Thema?
"TLDR" steht für "Too long, didn't read". Ein bestimmtes Ereignis hat meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt. Um eine sehr lange und komplexe Geschichte möglichst kurz zu machen: Ich bin im Dezember 2016 zum ersten Mal mit einer wunderbaren Community von Sexarbeiterinnen in Kapstadt zusammengekommen, die mit der "Sex Workers Education & Advocacy Taskforce" – kurz SWEAT – verbunden sind. Wir trafen uns in der South African National Gallery. SWEAT und mehrere Künstlerinnen, inklusive mir, protestierten dort vehement gegen die Präsentation einer Arbeit des Künstlers Zwelethu Mthethwa in einer Ausstellung, die angeblich die Repräsentation von Frauen und Geschlechter-Ungleichheit thematisieren sollte. Die Ausstellung, die von drei weißen Frauen kuratiert wurde, hieß "Our Lady". Zu diesem Zeitpunkt war Zwelethu Mthethwa schon seit Jahren wegen des Mordes an Nokuphila Kumalo angeklagt, einer jungen Mutter, die ihre Familie durch den Verkauf sexueller Dienste in dem Stadtteil Woodstock in Kapstadt ernährte. Woodstock ist eine Nachbarschaft, die rasend schnell gentrifiziert wird. Sexarbeiterinnen sind dort noch sehr präsent, aber gleichzeitig gibt es auch eine Ansammlung von südafrikanischen Top-Galerien, einschließlich der Goodman Gallery, die meine Arbeit vertritt. Durch diese Überschneidung des Kunst-Handels mit dem Sex-Handel – die sich so schaurig in dem Mord an einer Sexarbeiterin durch einen weltbekannten Künstler spiegelt – habe ich die SWEAT Community kennengelernt.

Wie wurde daraus dann Ihre eigene Kunst?
Die Gespräche, die wir 2016 begannen, liefen schließlich auf die Entstehung von "TLDR" hinaus. Obwohl es in der Installation nicht direkt um Mthethwa oder seinen Fall geht, ist sie doch dem Andenken von Nokuphila Kumalo gewidmet. Sie war eine enge Freundin von vielen der SWEAT-Mitglieder. TLDR kontextualisiert Mthethwa in einer Gruppe mächtiger Männer, denen sexuelle Belästigung oder Gewalt vorgeworfen wird, darunter Oscar Pistorius, Bill Cosby, Jacob Zuma, Roman Polanski und Donald Trump. Wir haben die zehn Interviews, die den ersten Teil von TLDR ausmachen, im Februar 2017 gefilmt. Im Oktober bin ich nach Kapstadt zurückgekehrt, um den zweiten Teil, eine Drei-Kanal-Projektion, mit denselben SWEAT-Aktivistinnen aufzunehmen. Am letzten Tag des Drehs kam die Weinstein-Story ans Licht.

Ob Sexarbeit nun ein ganz normaler, selbstgewählter Beruf oder eine Ausbeutung der Frauen ist, gehört zu den größten Streitpunkten im Feminismus. Schon die Worte Prostitution und Sexarbeit sind hochexplosiv. Ist TLDR eine Positionierung?
Ich habe mich schon immer für Sexarbeit aus feministischer Sicht interessiert. Natürlich sind nicht alle Sexarbeiter Frauen – in "TLDR" kommt auch ein männlicher Sexarbeiter vor, neben den zehn anderen, die sich als Frauen identifizieren, eine davon eine Trans-Frau. Aber Frauen tragen am häufigsten die Last der Gewalt, des Stigmas und der Diskriminierung, die Sexarbeitern entgegenschlägt. Wie "TLDR" nahe legt, gibt es kein anderes Thema, das die feministische Debatte so sehr erhitzen kann. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die wie ich daran glauben, dass die Entkriminalisierung von Sexarbeit der einzige Weg ist, um sichere Bedingungen in der Sex-Industrie zu gewährleisten, Stigmata abzubauen und die Menschenrechte der Sexarbeiter zu garantieren. In der Branche müssen die gleichen Arbeitnehmerrechte gelten wie andernorts. Auf der anderen Seite gibt es Feministinnen, die einvernehmliche Sexarbeit mit Menschenhandel und Kinderpornografie verschmelzen und deshalb gegen jede Art von Sexarbeit sind. "TLDR" ist ein Versuch, durch diese Debatte zu manövrieren und daraus eine praktische Position zu destillieren.

Der Erzähler in ihrer Videoinstallation ist ein zwölfjähriger, sehr eloquenter Junge. Warum diese Perspektive?
Xanny Stevens, mein Erzähler, war am Abend des Showdowns in der South African National Gallery ebenfalls dabei. Seine Mutter, Marion Stevens, ist Vorsitzende der "Sexual & Reproductive Justice Coalition" und arbeitet eng mit SWEAT zusammen. Sie hat ein bewundernswert stürmisches und intersektionales Denken in Danny gesät, der selbst ein sehr kluger Kopf ist. Danny ist wahrscheinlich der einzige 12-Jährige der Welt, den ich als Erzähler dieser sehr besonderen Geschichte casten konnte. Weil er in einer Umwelt groß geworden ist, in der über Gender und Sexarbeit geradeheraus diskutiert wird, musste ich ihn nicht erst überzeugen und ihm nichts erklären.

Ist es auch eine Provokation, ein Kind über das Thema sprechen zu lassen?
In seiner Art, das Skript zu interpretieren, hat Xannys dieses Selbstbewusstsein der Millenials. Er ist geschmeidig und wortgewandt und herrlich genderfluide in seinem Auftreten. Obwohl sein ethnisches Erbe gemischt ist, identifiziert er sich als weiß. Einen weißen Jungen ins Zentrum dieser Arbeit zu stellen, war natürlich eine komplexe Entscheidung. Xanny spielt eine utopische Rolle. Er ist dabei, ein weißer Mann zu werden, aber er verkörpert eine Haltung, die ihn grundlegend von anderen Modellen dieser Spezies unterscheidet. Er repräsentiert die Möglichkeit einer weniger gewalttätigen und weniger patriarchalen Zukunft. Einer Zukunft, die aus dem Blickwinkel Südafrikas leider noch sehr weit entfernt scheint.

Sie thematisieren auch eine Initiative von bekannten Hollywood-Schauspielerinnen, die sich gegen die Entkriminalisierung von Sexarbeit ausgesprochen hat. Warum waren Ihnen die Promis wichtig, die sich zu diesem Thema äußern?
"TLDR" ist die Nacherzählung einer wahren Geschichte. In 2015 hat sich eine Gruppe prominenter Feministinnen wie Gloria Steinen zusammen mit bekannten Schauspielerinnen wie Meryl Streep, Emma Thompson, Lena Dunham, Anne Hathaway, Kate Winslet und Charlize Theron gegen einen Vorschlag von Amnesty International ausgesprochen, Sexarbeit zu entkriminalisieren. Indem sie das getan haben, verbündeten sie sich mit rechten und religiösen Interessengruppen, aber auch mit den sehr lauten Sexarbeitsgegnern "CATW" (The Coalition Against Trafficking in Women). So wie die Aufmerksamkeitsökonomie nun mal läuft, erregte diese Mobilisierung prominenter Frauen gegen Amnesty natürlich großes öffentliches Interesse. "TLDR" erzählt diesen Kampf nach. Einen Kampf, der Feministinnen gegen Feministinnen und Hollywoodstars gegen Sexarbeiter-Communities aufbrachte. Gleichzeitig reflektiert die Arbeit auch den weißen Retter-Komplex, der oft dem Engagement von Prominenten zugrunde liegt. Sie zielt darauf ab, dass diejenigen, die ein privilegiertes Leben führen, manchmal trotz ihrer guten Absichten mehr Schaden als Nutzen verursachen, wenn sie sich in komplexe soziopolitische Debatten hineinwerfen - ohne ein adäquates Verständnis für die Konsequenzen zu haben, die ihre Selbstdarstellung für prekär und marginalisiert lebende Menschen haben könnte.

Sie zeigen das Werk nun auf der Art Basel. Was heißt es für Sie, "TLDR" im Kontext des Kunstmarktes zu zeigen, wo es um Kaufen und Verkaufen geht?
Ich denke, die Kunstmesse ist der perfekte Kontext für die Arbeit. Es gibt mehr Überschneidungen zwischen Sexhandel und Kunsthandel, als wir uns eingestehen wollen. Beide Formen verleihen Dienstleistungen ökonomischen Wert, von denen wir gern denken, dass sie außerhalb der Warenwelt stehen. Künstler und Sexarbeiter sind Experten darin, in prekären Zuständen zu überleben – was natürlich auf Künstler, die das Privileg haben, auf der Art Basel auszustellen, weniger zutrifft. Sie arbeiten oft nebeneinander in Vierteln, die gentrifiziert werden, wie Woodstock in Kapstadt oder die Potsdamer Straße in Berlin.

Kann man den Erfolg einer solch politischen Arbeit kommerziell messen?
Wenn ich "TLDR" nach Basel bringe ist meine größte Hoffnung dabei, dass die Community der Sexarbeiterinnen, die in "TLDR" auftauchen, international wahrgenommen wird, sowie auch die Themen, die sie auf der Plattform zur Sprache bringen, die meine Arbeit ihnen bietet. Basel wird für uns erfolgreich gewesen sein, wenn die Präsenz der Arbeit auf der Messe zu einer Reihe neuer Einladungen führt, sie zu zeigen. Wenn es uns in Basel zudem gelingt, die Arbeit zu verkaufen, wäre das ein großer Bonus, um einen Teil des Erlöses der SWEAT Community in Kapstadt zurück zu geben.