Das Gaga-Projekt "Chance 2000", gestartet in den fernen 90er-Jahren, hat Verwandte in der Gegenwart: Erst tauchte in den Nullerjahren die Piratenpartei auf, dann 2013 die AfD. Hat Christoph Schlingensief das Kommen und Gehen von Anti-Establishment-Parteien etwa prophetisch vorhergesehen? Vor allem wegen der letzten Gruppierung ist Deutschland ein anderes Land geworden. Man kann mitten im Wahlkampf dazu aufrufen, eine türkischstämmige Integrationsbeauftragte "in Anatolien zu entsorgen".
Grenzüberschreitende Entgleisungen sind en vogue und das bekanntlich nicht nur hierzulande. Deshalb kommt man beim Anblick von Schlingensiefs anarchischer Bundestagswahlkampfaktion von 1998 auch nicht umhin sich zu fragen, was ihm zu dem Stand der Dinge in Zeiten von Trump, Erdogan, Putin, Gauland & Co. als Kommentar eingefallen wäre. Den Ton hätte er wohl ändern müssen, denn den heutigen mitunter bereits regierenden Polit-Clowns wäre er mit schrillem Protest inzwischen kaum beigekommen. Danke, Christoph, aber deine Chancen zur Aufrüttelung wären heute gleich Null.
1998 gründete Schlingensief mit 312 Kombattanten in einem Zirkuszelt auf dem Hof des Volksbühnen-Praters die Partei "Chance 2000". Gerhard Schröder konnten die Theateraktivisten mit Empfehlungen wie "Wähle dich selbst" oder "Rettet die Marktwirtschaft, schmeißt das Geld weg" zwar nicht verhindern, die damals größere Reizfigur Helmut Kohl aber schon. Und sie erreichten immerhin auf Anhieb 0,007 Prozent der Erststimmen und 0,058 Prozent der Zweitstimmen. Die Dokumentation von Kathrin Krottenthaler und Frieder Schlaich wählt nun aus über 100 Stunden verwackeltem Kampagnenmaterial unterschiedlicher Provenienz die signifikantesten Momente aus. Man sieht Schlingensief über eine Dauer von einem halben Jahr gemeinsam mit seiner Truppe aus Schauspielern, Dramaturgen, Arbeitslosen und behinderten Artisten vom Zirkus Sperlich tanzend und hüpfend Slogans herausschreien, Unterschriften sammeln, Stimmen auszählen, bei Harald Schmidt, Sabine Christiansen und Alfred Biolek den Talker simulieren, Parteikämpfe ausfechten, Konzerne gründen und Insolvenzen vortäuschen.
Eine langwierige Prozedur aus Performance und Realpolitik, die Schlingensief immer wieder gerne durch absurde Einlagen wie etwa ein Massenbad von Arbeitslosen im Wolfgangsee auflockert, das die Villa von Helmut Kohl vergeblich unter Wasser zu setzen versuchte. In der Ära fehlender Navigationsgeräte irrt man mitunter verloren durch die Landschaft, die Energie verpufft trotzdem nicht, denn Schlingensiefs grenzenloses Ego lässt sich durch nichts und niemanden bremsen. Daran erinnert diese auf "amateurhaft" vorbildlich getrimmte Doku, eine Hommage ganz im Geiste ihres zwischen Ernst, Ironie und notorischem Klamauk schwankenden Erfinders.
Wie ein Echo aus einer fernen heilen Republik wirkt sie dennoch. Es fällt schwer die Gedanken und Gefühle von damals in eine Zeit zurückzutransferieren, in der sich der amerikanische Präsident nicht zu schade ist, täglich die Welt mit seinen Weisheiten zu beglücken, nur um am nächsten Tag subversiv das Gegenteil zu behaupten. Der Wahnsinn ist unter uns. Und das ganz oben auf der ins Unendliche offenen Entertainment-Skala.