Wenn man über Gebäude des Brutalismus liest, stehen unter den Abbildungen meistens zwei Jahreszahlen: erst das Baujahr, dann das Abrissjahr. Gerade so, als wären die Betonbauten nur auf Zeit geplant. Jedenfalls galt Beton bis vor kurzem noch als hässlich und die Bauten aus den 60ern als Bausünden.
In den zerbombten Innenstädten der Bundesrepublik wurden die Freiflächen schnell mit Gebäuden aus béton brut gefüllt. Das Ziel war eine demokratische, offene Form des Bauens und ein Neuanfang nach der streng hierarchischen Architektur des Faschismus. In England wurden in den 60ern türmeweise Sozialwohnungen hochgezogen. Aber auch das Barbican Centre in London mit seinen Theaterbühnen und Konzertsälen. Und dann gibt es natürlich noch die Wohnmaschine von Le Corbusier in Marseille und Berlin, eine betongewordene Utopie und Vorreiter des Brutalismus. In den 70ern durften sowjetische Architekturstudenten in der Tundra und in der Steppe Bushaltestellen aus Beton bauen. Völlig zweckbefreit, dafür aber umso schöner.
Bald wurden die Utopien aber zu unheimlichen Orten. Es gibt eine Menge Gruselgeschichten über den Frankfurter AfE-Turm (Baujahr 1970, 2014 gesprengt), oder über die Selbstmordrate an der Ruhr-Universität in Bochum (Baubeginn 1964). Der Romanautor J.G. Ballard inszeniert seine dystopischen Romane am liebsten vor einer menschenfeindlichen Sichtbetonkulisse. Denn für ihn führt eine direkte Linie von Arnold Böcklins monolithischer "Toteninsel" über den Atlantikwall der Nazis bis zu den verwahrlosten Sozialbauten der Nachkriegszeit.
Was auch immer die Postmoderne war, das ist jetzt vorbei. Die glatten, spiegelnden Glasfassaden sind zwar immer noch da, gelten aber als Architektur neoliberaler Kälte, wie der Neubau der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Die Schießschartenarchitektur mit unwirtlichen, aber teuren Granitfassaden macht sich in den Innenstädten breit. Keine Chance mehr für Beton.
Aber Rettung naht aus einer unerwarteten Richtung. Denn die spätmoderne Architektur sieht in den sozialen Medien ganz gut aus. Wer sich zum Beispiel in den höhlenartigen Räumen der Bochumer Ruhr-Universität unwohl fühlt, braucht wahrscheinlich erst ein paar Instagram-Fotos, um die ästhetischen Qualitäten der Bauten wertzuschätzen. Die Facebook-Gruppe "The Brutalism Appreciation Society" hat 25 000 Mitglieder. Der Hype um Sichtbeton hat auch konkrete Auswirkungen: Mit einer Online-Petition gelang es 2013, die Preston Bus Station, Baujahr 1969, vor dem Abriss zu bewahren. Mittlerweile hat das Gebäude einen eigenen Twitter-Account.
Es gibt ziemlich viele Tumblr, die mit archivarischem Eifer Fotos von betonlastiger Architektur sammeln, außerdem ein Hashtag #sosbrutalism auf Instagram und eine dazugehörige Intiative des Deutschen Architekturmuseums, der Wüstenrot Stiftung und des Uncube-Magazine, sozusagen eine rote Liste für den meistgehassten Baustil des 20. Jahrhunderts. Der Hype ist aber nicht auf soziale Medien beschränkt. Seit Mai 2015 nutzt die Galerie Johann König die von Werner Düttmann gebaute Kirche St Agnes in Berlin als Ausstellungsraum. Geplant wurde der Umbau vom Architekten und Brutalismus-Fan Arno Brandlhuber. Wahrscheinlich muss man sich den Geschmack für Brutalismus erst antrainieren. Denn, wie Zaha Hadid einmal sagte: "Es gibt nichts, was diesen Baustil höflich oder niedlich macht. Er ist, was er ist."