Hype um "Saltburn"

Filmisches Biest ohne Moral

Dekadent, provokant, alles andere als enthaltsam: Der Film "Saltburn" sorgt zum Jahresende für Schlagzeilen. Es wäre jedoch falsch, dieses schräge Werk über Klassenunterschiede und Anziehung auf seine Skandalszenen zu reduzieren

Zum Ende des Jahres lässt sich dank Emerald Fennells "Saltburn" Filmdiskurs am Limit beobachten. Es sind vor allem drei Szenen, die ihrem subversiven Angriff auf die britische Klassengesellschaft den Ruf als kontroversesten Film des Jahres eingehandelt haben (zu sehen bei Amazon Prime). Einmal schlürft Oliver (großartig: Barry Keoghan) genüsslich das spermahaltige Badewasser seines besten Freundes und Schwarms Felix (Jacob Elordi), nachdem der in der Wanne masturbiert hat. Wenig später ein Nacht-und-Nebel-Tête-à-Tête unter freiem Himmel samt Oralsex und Regelblut. Und dann zeigt Fennell noch, wie ein frisch zugeschüttetes Grab penetriert wird. 

Die britische Drehbuchautorin, Regisseurin und Schauspielerin weiß sehr genau um die Effekte der Bilder, das hat sie bereits in ihrem gefeierten Debüt "Promising Young Woman" bewiesen. In dem ebenfalls expliziten Thriller lockt die von Carey Mulligan gespielte Heldin aufdringliche Typen in ihren Bau und tritt als feministische Rächerin gegen toxische Männlichkeit und die "Rape Culture" auf. 

Klar: Fennell ist alles andere als eine zimperliche Filmemacherin. Nur würde es "Saltburn" nicht gerecht werden, ihn auf vermeintliche Skandalszene zu reduzieren, die by the way mehr als dumpfe Provokation sind. Sie alle ergeben Sinn in dieser immer schräger werdenden Welt, die die britische Autorenfilmerin entwirft. Stehen sie doch für jenes vieldeutige Begehren, an dem sich das Werk abarbeitet.

Ein Schwarm, der Männer wie Frauen anzieht

Zu Beginn des Films steht das Begehren nach Anerkennung. Oliver Quick, der gleichzeitig als Erzähler fungiert, kommt 2006 zum Studium an die University of Oxford und ist der Außenseiter par excellence. Während die rich kids cool mit Zigaretten im Hof der Eliteuniversität herumlungern, schleicht Oliver ("ein Stipendiat, der seine Kleidung bei Oxfam kauft", wie ihn jemand beschreibt), verkniffen mit Pseudo-Uniform herum. Status und Klassenunterschiede bestimmen das Treiben dort. Während Oliver allein Billard spielt, feiert der Adelsnachwuchs feuchtfröhlich Weihnachten. 

Durch seine Freundschaft zu Felix ändert sich alles. Dieser ist der Schwarm von allen, er ziehe Männer wie Frauen in seinen Bann, erklärt Oliver aus dem Off. Und eben auch den Erzähler selbst, der zu Felix‘ neuem "Spielzeug" wird. Der holt den Außenseiter in seine Kreise und lädt ihn, nachdem Oliver von prekären Verhältnissen zuhause und seinem im Rausch umgekommenen Vater erzählt, über den Sommer mit nach Saltburn ein. 

So heißt nämlich das gewaltig gotisch protzende Landhaus, in dem die Catton-Familie residiert. Bei einem ersten Rundgang geht es durch gewaltige Räume, an deren Wänden Bilder von Rubens hängen. Dort der blaue Raum, hier das Ankleidezimmer. Im Königschlafzimmer, so witzelt Felix, klebe noch royales Sperma am Bett, in einem anderen Raum habe er seine Cousine gefingert. Das Obszöne, im dekadenten wie im sexuellen Sinne, durchzieht "Saltburn". Das Herrenhaus ist die Metapher für den britischen Upper-Class-Kosmos mit seinen spätkapitalistischen, teils wohlstandverwahrlosten Spielarten. 

Die Karten ausspielen

Mutter Elspeth (Rosamund Pike), ein Ex-Model mit ehemals lesbischen Tendenzen, bis es ihr "zu feucht" wurde, hat die Hosen an. Ihr Mann Sir James (Richard E. Grant) wirkt wie das Abziehbild eines Vertreters des alten Geldes, lacht sich aber bei einem Mittags-Screening der derben Highschool-Klamotte "Superbad" ins Fäustchen. 

Felix‘ kettenrauchende Schwester Venetia (Alison Oliver) hat eine Essstörung, ist sexuell sprunghaft und wirft gleich ein Auge auf den "so echten" neuen Jungen und Cousin Farleigh (Archie Madekwe), der ebenfalls parasitär von der finanziellen Gunst der Familie zehrt. Er beäugt Oliver skeptisch und lässt keine Gelegenheit aus, ihn vorzuführen. Letzterer bewegt sich nach anfänglicher Unsicherheit immer souveräner durch die elitären Kreise und weiß seine Karten mit Blick auf verschiedene Begehren auszuspielen.

Wie schon in ihrem Debüt bringt Fennell Genre-Versatzstücke mit einem popkulturellen Mashup zusammen. Für "Saltburn" hat sie "Harry Potter" – der Roman wird im Film sogar herumgereicht –, "Der talentierte Mr. Ripley", Klassen-Satiren wie "Parasite" und Herrenhaus-Filme á la "Abbitte", vor allem aber "The Shining", in ihren kinematografischen Mixer geworfen. Dann wird das Ganze mit Queerness, Millennial-Vibes und Popmusik von Bloc Party ("This Modern Love"), MGMT ("Time to Pretend") oder den Pet Shop Boys ("Rent") angereichert. Die TikTok-Meme-Vorlage eines nackt zu Sophie Ellis-Bextors "Murder on the Dancefloor" tanzenden Barry Keoghan ist natürlich inbegriffen.

Baden in visueller Pracht

Während der Blick von "La La Land"-Kameramann Linus Sandgren in der visuellen Pracht badet und Bilder voll schauriger Schönheit entwirft, kippt "Saltburn" langsam von den flirrenden Sommerbildern und Tennisspielen mit Champagner-Flaschen in der Hand in den Thriller-Modus. Fennell zelebriert die gelebte Dekadenz auch formal, lässt ihren Film ausschweifen und wie ihre Protagonisten zwischen vermeintlicher Eindeutigkeit und subversiver Ambivalenz schwanken. 

Am Ende stehen ein (nicht ganz unerwarteter) Twist und eine irritierende Erklärbär-Szene. "Sie würde alles für Aufmerksamkeit tun" seufzt Elspeth, als sie vom Suizid einer Freundin erfährt. Auch Fennell tut viel für die Affekte des Publikums. Doch was teils ausufernd und enervierend wirken mag, ist konsequent für dieses opulente, filmische Biest ohne Moral.