Seit über 20 Jahren lockt die Ruhrtriennale im Spätsommer ihr Publikum mit Theater, Tanz, Kunst und Musik in die Industriedenkmäler des Ruhrgebiets. Die Inszenierungen in ehemaligen Zechengebäuden und Maschinenhallen faszinieren in der Regel aufgrund des Kontrasts - manchmal ist die Kunst stärker als der Ort, manchmal überwältigt die Architektur die Inszenierung. Stets ist sie Kulisse.
Anders bei der aktuellen Ausstellung "Landscapes of an ongoing past". Für das Salzlager der Essener Zeche Zollverein entwickelte das Team der Kuratorinnen um Britta Peters ein Konzept, das den Ort und seinen Status als Welterbe selbst befragt. Und sie präsentieren Kunst, die sich ihren Raum schleichend erobert, sich mit ihm verbindet und wirkt, als wäre sie schon immer da gewesen. Und teilweise ist das auch so.
Auch wenn er nicht direkt auf der Werkliste steht - Bezugspunkt der neuen Ausstellung ist der "Palace of Projects" von Ilya und Emilia Kabakov. Bereits 2001 wurde er im Salzlager installiert, noch bevor die erste Ruhrtriennale an den Start ging. "Viele haben vergessen, was wir hier für einen Schatz haben", findet Peters. Sie stellt der berühmten Arbeit die neue Schau zur Seite und initiiert einen Dialog, bei dem alle gewinnen.
Kunst, die Grenzen sprengt
Kabakovs "totale Installation" besteht aus 16 Räumen, in denen über 60 fiktive Projekte nach den Möglichkeiten für eine bessere Welt fragen. Der Palast gilt als ein Hauptwerk des Künstlerpaars, und seine Dimension sprengte bereits beim Bau die Grenzen des Ortes: zwei Anbauten wurden vorgenommen, um eine Umrundung der Arbeit zu ermöglichen.
Die Ausstellungsarchitektur greift diese Erweiterung auf, indem sie die Anbauten in den Innenraum zurückspiegelt und aus dem einen Element den Kinosaal macht und in dem anderen eine Videoinstallation zeigt. Wie einige der Künstlerinnen und Künstler sind auch die Kabakovs in der Ukraine geboren - beide gingen in die USA, Ilya starb dort 2023. Auch das Thema Utopie teilen sie mit den Ausstellenden. Doch während der "Palast of Projects" voller neuer Möglichkeiten steckt, untersuchen die neueren Positionen eher Ruinen. "Uns interessiert welche vergangenen Vorstellungen und Hoffnungen sich in Architektur und Landschaft eingeschrieben haben", so Peters.
Bereits vor zwei Jahren begannen die Gespräche zwischen Peters, der Kulturwissenschaftlerin Alisha Raissa Danscher und ukrainischen Künstlern und Kuratorinnen. Tatiana Kochubinska war am PinchukArtCentre in Kiew tätig, Yevheniia Moliar ist ebenfalls aus Kiew und hat bereits eine Ausstellung zum Thema Industrie und Utopie umgesetzt: "Wir haben viele Parallelen gefunden", berichtet Peters. "Die Industrielandschaft des Ruhrgebiets hat vergleichbare Wunden, wie die Landschaften in Osteuropa." Sie beschlossen, den Kreis zu erweitern und auch Künstlerinnen und Künstler aus Georgien und Albanien einzuladen; und solche, die noch in der DDR aufgewachsen sind.
Die Gedanken sollen um Begriffe kreisen
Trotz der Parallelen: die eine gemeinsame Botschaft gibt es nicht. Und auch das kuratorische Team spricht lieber von verschiedenen Denkinseln, die sie geschaffen haben. Der Ausstellungsparcours ist nicht festgelegt, und Verbindungen zwischen den Positionen sind häufig assoziativ. Statt einer Linie zu folgen, sollen die Gedanken um Begriffe kreisen. Das begleitende Glossar bietet Eckpunkte an: Landschaft, Kosmos, Utopie und Erinnerung sowie Industrie, Architektur, kulturelles Erbe und Zukunft. Sicher eine Möglichkeit, der Komplexität gerecht zu werden - und so ist es auch eher ein sinnliches Erlebnis, eine gemeinsame Atmosphäre, die die Ausstellung trägt.
Es gibt fröhliche, naive Momente, zum Beispiel, wenn man vom Massage-Sessel aus Uli Golubs Großmutter auf ihre Weltraumstation folgt oder in Yuri Yefanovs Schrebergarten Platz nimmt und sich in eine bunte Gaming-Utopie versenkt. Und während die Babushka über die Grenzen des Planeten philosophiert, wacht ein Gartenzwerg über den Wald und die friedliche Koexistenz aller Lebewesen auf Erden. Am anderen Ende der Halle winkt ein Dinosaurier und meldet: Alles wird gut. Ausgerechnet.
Ambivalenz könnte auch ein Begriff für das Ausstellungsglossar sein. Marta Dyachenkos fiktive Landschaften sind eine fragile Mischung aus Zitaten moderner Architektur und selbst bereits Ruinen. Zhanna Kadyrova schafft aus den Kacheln abgerissener Gebäude neue Objekte, die an Kleidungsstücke erinnern und damit auch an die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner der verschwundenen Orte. Das führt zu Nino Kvrivishvili. Die Georgierin hat Textildesign studiert und präsentiert Wandteppiche, in denen sie ihre persönlichen Erinnerungen mit Reminiszenzen an die einst bedeutsame Textilindustrie des Landes verwebt.
Ausstellungsstücke zwischen den Trümmern
So geht es weiter, vor und zurück durch die Ausstellung, die Bezüge sind mal formal, mal inhaltlich und langsam wäre es Zeit, das Glossar auch um die Melancholie zu erweitern. In traurig-schönen Bildern erzählt Driant Zeneli vom Chromabbau in seiner Heimat Albanien. Fünf Kinder suchen in seiner Videoinstallation ihren Weg durch die Mine. Durch mysteriöse Landschaften transportieren sie gemeinsam eine silberne Kugel, die größer ist als sie selbst. Ein poetisches Bild: "Maybe The Cosmos Is Not So Extraordinary", so Zeneli 2019.
Vom Krieg war bisher nicht die Rede - aber bei Nikita Kadan ist das unausweichlich. In seiner Arbeit "The Popasna Corner" erzählt der Künstler vom Verschwinden und Bewahren. Es ist die Geschichte eines Kunstwerks und die des Heimatmuseums von Popasna. Die Skulptur "Biotechnosphere" von Fedir Tetianych (1942-2007 in Kiew) ist eine phantastische Kugel auf Rädern, die Lebensraum und Transportmittel zugleich ist. Eine Utopie der 70er-Jahre, ein wenig Science Fiction in Sowjet-Tradition. Sie stand in Popasna vor den Eisenbahnwerken. Das Semen Ioffe-Museum hat der gleichnamige Lehrer gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern aufgebaut. Ein Heimatmuseum mit Exponaten aus der Natur, der Geschichte, persönlichen Erinnerungsstücken und Amateurkunst.
Die "Biotechnosphere" wurde zerstört, "um das Metall zu bekommen", berichtet Kadan und auch das Museum gibt es nicht mehr. Popasna wurde 2022 dem Erdboden gleich gemacht. Es gibt noch Internetbilder, auf denen man Ausstellungsstücke zwischen den Trümmern sieht.
Die futuristische Lore
Was wird aus der Kunst während des Kriegs? Wer bewahrt die Erinnerung? Kulturelles Erbe, heißt es im Glossar. Für einen Augenblick ist die Bedeutung des Begriffs spürbar.
Draußen vor der Halle führt ein QR-Code zur Initiative Pixelated Realities. Die Organisation sammelt Daten von Objekten und Architekturen, um den Wiederaufbau zu sichern. Neben dem Eingang ist Fedir Tetianychs "Biotechnosphere" neu entstanden. Sein Sohn Bogdan Tetianych und Bögdana Cosima haben sie für die Ausstellung nachgebaut. Der rostige Metallkörper auf Schienen wirkt, als habe er schon immer hier auf dem Gelände der Zeche gestanden. Eine futuristische Lore.
Ein Plakat wirbt für die Ruhrtriennale mit dem Festivalmotto "Longing for tomorrow" - Sehnsucht nach dem Morgen. Mit Yuri Yefanov könnte man sagen: We will definitely talk about this after the last air raid alert stops. Wir werden sicher darüber sprechen, wenn der letzte Fliegeralarm verklungen ist.