Kunstinteressierte sollten nicht mit vorgefassten Erwartungen nach Kassel kommen, rät das für die Documenta verantwortliche Kuratorenkollektiv Ruangrupa. "Wir möchten die Gäste ermutigen, keinem strikten Zeitplan zu folgen und sich stattdessen mit Offenheit und Neugierde treiben zu lassen", sagten Ruangrupa-Mitglieder im schriftlichen dpa-Interview. "Im Idealfall stellen wir uns eine Documenta vor, die jeder und jedem, der sie erlebt, Hoffnung und Positivität vermittelt." Zur Debatte um die Auswahl der Teilnehmer hieß es: "Wir hoffen, dass mit der Eröffnung nun die Inhalte und Arbeiten im Vordergrund stehen können, um die es bei der Documenta fifteen eigentlich geht." Am Samstag eröffnet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die 100-Tage-Schau. Das Interview im Wortlaut:
Die Documenta fifteen steht ganz im Zeichen von "lumbung", einem gemeinschaftlich ausgerichteten Modell der Ressourcennutzung. Welche Botschaft wollen Sie mit Ihrem künstlerischen Konzept vermitteln?
Wir verstehen lumbung nicht als ein Konzept mit einer Botschaft, sondern als eine Praxis, als etwas, das wir tatsächlich tun, basierend auf Werten wie lokale Verankerung, Humor, Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration. Und es ist etwas, zu dem wir die Menschen einladen möchten, es gemeinsam mit uns zu tun. Sie einladen, neugierig zu sein auf die Kunst und die künstlerischen Praktiken und darüber miteinander ins Gespräch zu kommen, Wissen und Perspektiven auszutauschen und zu schauen, was lumbung für das eigene Leben und in der jeweiligen Umgebung bedeuten kann.
Unter den Teilnehmern sind kaum Einzelkünstler, sondern vorwiegend Künstlerkollektive, oft aus dem Globalen Süden. Warum?
Die Auswahl erfolgte nicht anhand eines geografischen Ansatzes, aber viele Praktiken, die wir als wertvoll für die lumbung-Reise erachten, kommen aus nicht-westlichen Ländern. Wir freuen uns über diese Tatsache, denn die Vielfalt der Kontexte lässt sich nur schwer an einem Etikett wie "Globaler Süden" oder "Dritte Welt" festmachen - das sind Begriffe, die Beziehungen binär machen, homogenisieren und verallgemeinern. Da Kollektivität im Mittelpunkt steht, haben wir zunächst 14 Kollektive eingeladen, ein transnationales Netzwerk aufzubauen, gefolgt von der Einladung von 53 lumbung-Künstlern, darunter viele Kollektive, die wiederum weitere Beteiligte einluden. Und nun wird dieser kollektive Prozess in wenigen Tagen auch für das Publikum und die Gäste der Documenta fifteen geöffnet. Der Aufbau von Beziehungen begann lange vor der Eröffnung und wird hoffentlich über die 100 Tage der Documenta fifteen hinaus fortbestehen.
Damit verzichten Sie auch auf bekannte Namen, die auch in der Kunst als Zugpferde dienen können. Wie wollen Sie verhindern, dass die Documenta an internationaler Bedeutung verliert?
Die Frage ist: Von welchem Kontext für Bekanntheit und internationale Bedeutung sprechen wir? Viele der lumbung member und -Künstler*innen haben eine etablierte Praxis und sind in Bereichen jenseits des westlichen Kunstmarktes weithin bekannt. Das Festival sur le Niger aus Mali zum Beispiel ist auf dem afrikanischen Kontinent über die Landesgrenzen hinaus sehr renommiert. Agus Nur Amal PMTOH und Taring Padi sind für uns in Indonesien etablierte Namen, jeder auf seinem Gebiet. Wir sind nicht daran interessiert, die Erwartungen von Künstler*innenlisten zu erfüllen, sondern möchten zeigen, welche Werkzeuge und Perspektiven lumbung im Hinblick auf die aktuellen Krisen in der Welt bieten kann. Darin liegt unserer Meinung nach die internationale Bedeutung.
Nicht die Kunst in fertiger Form, sondern das Prozesshafte, Experimentelle, Interaktive steht im Mittelpunkt der Documenta fifteen. Wie wird der Besucher das in Kassel konkret erleben können?
Natürlich können Sie als Ausstellungsbesucher*innen nach Kassel kommen, durch die Ausstellungsorte spazieren und Zeichnungen und Gemälde, Filmprogramme, immersive Installationen und das dichte lumbung-Programm erleben. Aber wir möchten die Gäste ermutigen, keinem strikten Zeitplan zu folgen und sich stattdessen mit Offenheit und Neugierde treiben zu lassen - zu schauen, wohin die Reise ihres Besuchs sie führen könnte. Die Menschen in Kassel und diejenigen, die die Gelegenheit haben, die Documenta mehrmals zu besuchen, werden feststellen, dass sich auch die Ausstellung im Laufe der 100 Tage verändern wird. Sie wird anders aussehen, wenn man im Juni zu Besuch kommt als im Juli, August oder September.
Welches Ziel verfolgen Sie mit der Documenta fifteen: Was soll der Besucher am Ende für sich mit nach Hause nehmen? Was soll über den 25. September hinaus von der Ausstellung bleiben?
Im Idealfall stellen wir uns eine Documenta vor, die jeder und jedem, der sie erlebt, Hoffnung und Positivität vermittelt. Da lumbung kein Thema ist und auch nicht unsere Erfindung, sollten alle von dem, was wir im Rahmen Documenta fifteen anbieten, lernen können und es im eigenen Leben auf die eigene Weise und entsprechend der eigenen Möglichkeiten anwenden. Von unserer Seite aus hat diese Reise gerade erst begonnen, die Praktiken, die bereits darin enthalten sind, werden fortbestehen und die Affinitäten hoffentlich aufrechterhalten. Die Documenta fifteen soll nicht das letzte Mal sein, dass man von lumbung hört.
Im Vorfeld hat vor allem die Debatte um die angebliche Nähe der Documenta zur BDS-Bewegung, die international zu Boykottaktionen gegen Israel aufruft, die öffentliche Wahrnehmung bestimmt. Wie beeinflusst diese Diskussion Ihre Arbeit?
Wir haben in einem offenen Brief detailliert Stellung zu den Vorwürfen bezogen und wir möchten alle, die sich für die Hintergründe interessieren, ermutigen, diesen Brief zu lesen. Wir hoffen, dass mit der Eröffnung nun die Inhalte und Arbeiten im Vordergrund stehen können, um die es bei der Documenta fifteen eigentlich geht.
Sie haben sich immer wieder gegen Eingriffe in die künstlerische Freiheit verwahrt und politische Neutralität sowie Dialogbereitschaft betont. Wo endet die künstlerische Freiheit?
Künstlerische Freiheit endet zum Beispiel immer dann, wenn Hate Speech und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit geäußert werden. Darüber hinaus kann ein Dialog nur dann stattfinden, wenn die Grundannahmen der Dialogpartner auch selbst zur Diskussion gestellt werden können. Pauschalierte Unterstellungen, wie sie im Rahmen der Angriffe gegen die Documenta fifteen erfolgt sind, machen einen Dialog schwierig bis unmöglich. Wir appellieren an die Verantwortung und Solidarität aller, die die Bedingungen für einen offenen Diskurs und verantwortungsvoll geführte Debatten erhalten sehen wollen, denn ohne diese wäre auch die Documenta fifteen nicht denkbar.