Roy Lichtenstein zum 100. Geburtstag

Der schlechteste Künstler der USA

Zu Beginn seiner Karriere wurde Roy Lichtenstein für seine Comic-Gemälde geschmäht, heute gehört er zu den bekanntesten Vertretern der Pop Art. Seine Frage, was ein Bild überhaupt ist, klingt aktueller denn je. Nun wäre er 100 geworden

Ein Ölbild mit Comic-Motiv! Das ging Anfang der 1960er selbst den an Crossover gewöhnten US-Amerikanern zu weit. "Look Mickey", ruft 1961 der auf einem Holzsteg angelnde Donald Duck seinem Freund Micky Maus zu, "I’ve hooked a big one!!". Roy Lichtenstein, der zuvor abstrakt-expressionistische Bilder gemalt hatte, übernahm die Szene aus einem Kaugummibild im Besitz seines Sohnes. Inklusive der über Donald platzierten Sprechblase. Aber der Riesenfisch, den Donald am Haken vermutet, ist eine Ente – Donald selbst, der beim Auswerfen der Schnur seinen Matrosenanzug mit dem Haken erwischt hat. Micky kann sich das Lachen kaum verkneifen. Die Öffentlichkeit fand das Motiv weder witzig noch originell noch schön. Es wirkte lieblos und in groben Strichen hingepinselt, mit einem grellen Farbklang aus Gelb, Blau und Rot. "Is he the worst artist in the U.S.?", giftete das Magazin "Life", in dem "Look Mickey" 1964 erstmals abgebildet wurde.

Der mutmaßlich schlechteste Künstler der Staaten gilt heute als berühmtester Vertreter der Pop-Art nach Andy Warhol. Lichtensteins Markenzeichen, die mal mit Schablonen, mal von Hand aufgetragenen Benday Dots, sind schon in "Look Mickey" von 1961 zu finden, hier noch als zarter Schleier in Donalds Augen und in Mickys grinsendem Gesicht. Das Ende des 19. Jahrhunderts von dem Illustrator Benjamin Day zwecks gedruckter Darstellung von Mischfarben und Halbtönen entwickelte Punktraster trat später zunehmend vergröbert in den Lichtenstein-Bildern zutage. Das Medium wurde zur Message – falls es eine gibt. 

Wenn der Künstler Comics adaptierte, ging es ihm weder um etwaigen Holzhammerhumor noch um brutale oder sentimentale Inhalte. Die mit einem gewaltigen "Whaam!" zerberstenden Kampfflieger oder ertrinkenden jungen Frauen dienten nur als Anlass für Reflexionen zur Bildproduktion. Was ist ein Bild überhaupt? fragte Lichtenstein in seiner Kunst. Mit metaphysischer Tiefe hatte er nichts am Hut. "Ich bin mir nicht sicher", bekannte der Künstler einmal, "welche gesellschaftliche Botschaft meine Kunst vermittelt, wenn überhaupt. Und ich lege es auch nicht darauf an. Ich will nicht der Gesellschaft etwas beibringen oder unsere Welt in irgendeiner Weise verbessern."

Auf der Spur der Comics

Roy Fox Lichtenstein wurde am 27. Oktober 1923 in New York City geboren. Auf der Privatschule, die er besuchte, gab es keinen Kunstunterricht. Als Jugendlicher fing der Sohn eines jüdischen Immobilienmaklers einfach von sich aus an zu malen und zu zeichnen. Auch begeisterte er sich für Jazz und porträtierte Musiker, die er in Jazzclubs der 52nd Street kennenlernte, im Stil des Realisten Ben Shahn.

 Als Teenager besuchte Lichtenstein Kurse der Art Students League of New York bei Reginald Marsh, einem Maler des amerikanischen Social realism. Obwohl er schon damals Picasso verehrte, vor allem dessen blaue und rosa Periode hatten es ihm angetan, konnte Lichtenstein mit abstrakter Kunst zunächst wenig anfangen. Weder der Kubismus noch der Futurismus beeindruckten ihn.

1940 schrieb er sich am College of the Arts der Ohio State University in Columbus ein. Sein wichtigster Professor an der Hochschule, die er mit Unterbrechungen bis 1949 besuchte, wurde Hoyt L. Sherman, der Wahrnehmungsexperimente mit seinen Studenten durchführte. Sherman benutzte einen "Flash room", einen abgedunkelten Raum, in dem er Bilder kurz auf eine Leinwand projizierte. Manchmal wurden reale Objekte an die Decke gehängt und kurz angestrahlt. Die Studierenden sollten dann zeichnen, was sie gesehen hatten. 

Eine Mischung aus Wissenschaft und Ästhetik

"Man bekam ein sehr starkes Nachbild, einen Gesamteindruck, und den musste man dann in der Dunkelheit zeichnen", so Lichtenstein. "Dabei kam es darauf an zu erspüren, wo die Einzelteile sich im Verhältnis zum Ganzen befanden... Es war eine Mischung aus Wissenschaft und Ästhetik, und genau das interessierte mich. Ich wollte schon immer den Unterschied kennen zwischen einem Strich, der Kunst ist, und einem, der keine Kunst ist." Sherman habe ihn gelehrt, berichtete der Künstler, "dass der Schlüssel zu allem in dem lag, was er als Einheit der Wahrnehmung bezeichnete."

Dem Wunsch seiner Eltern folgend, peilt er zunächst den Lehrerberuf an. Als er 1960 eine Dozentenstelle in New Jersey antritt, findet er Anschluss an eine junge New Yorker Kunstszene, die den Abstrakten Expressionismus hinter sich gelassen hat. Lichtenstein freundet sich mit seinem Lehrerkollegen, dem Kunsthistoriker und Performancekünster Allan Kaprow an. Kaprow macht sich für die Ideen von John Cage stark, für den Alltagsdinge ästhetisch bedeutend sind. Und es ist auch Kaprow, der Lichtenstein dazu ermutigt, die Spur der Comics weiterzuverfolgen.

"Ich kam auf die Idee, eines dieser Kaugummibilder zu malen, und zwar großformatig, einfach um zu sehen, wie das ausschauen würde", erinnerte sich Lichtenstein. Das mit einer Hundebürste gemalte Bild "Look Mickey" wird in der New Yorker Galerie von Leo Castelli ausgestellt und verkauft. Und Lichtenstein kann von seiner Kunst leben. Eine Kunst, der er im Kern über vier Jahrzehnte treu bleiben wird. Eine solche stilistische Konsistenz, hier: das Beharren auf der knalligen Cartoon-Ästhetik, ist selten bei den ganz Großen der Kunstgeschichte.

Großformatige Luftgefechte und kleine Punkte

Die Punktraster auf seinen Bildern werden auffälliger, die schwarzen Linien seiner Cartoon-Adaptionen differenzierter und ausdrucksvoller. Von 1964 bis in die 1970er-Jahre hinein widmet sich der Künstler stilisierten Landschaften und Produktverpackungen, er rekreiert berühmte Werke aus der Kunstgeschichte, nimmt (in der Serie "Modern") geometrische Elemente aus dem Art-déco-Design auf, parodiert (mit den "Brushstrokes") den Abstrakten Expressionismus, im für ihn typischen Comicstil malt er großformatige Luftgefechte, Maschinengewehrsalven und Bombenexplosionen. Trotz der kühl-distanzierten Darstellung lassen sich solche Bilder auch als Reflex auf Lichtensteins Militärzeit im Zweiten Weltkrieg lesen.

Als junger GI in Europa konnte er erstmals eine Fülle von Werken der europäischen Moderne studieren. Jahrzehnte später, in den 1970er- bis 1980er-Jahren beschäftigte sich Lichtenstein mit dem Konzept des künstlerischen Stils. Besonders in den Werkserien dieser Phase spielte der Künstler mit diversen Merkmalen bedeutender Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts.

Er war nicht nur Maler. Lichtenstein widmete sich dem Siebdruck, dem Holzdruck, schuf Collagen und immer wieder Skulpturen. Die Ausstellung "Lichtenstein Remembered" der Galerie Gagosian in New York widmete sich bis zum 21. Oktober dem dreidimensionalen Schaffen des Künstlers. 

Bunt und rotzfrech

Die Motive der dort gezeigten Skulpturen sind, wie immer bei Lichtenstein, mehr oder weniger banal. Die cartoonhafte und perspektivisch verzogene Gestaltung der Werke lässt sie aber als bizarre Fremdkörper in der realen Umgebung erscheinen. "Für mich sind die Skulpturen am originellsten und interessantesten", schrieb kein Geringerer als David Hockney im Katalog zur Ausstellung, und weiter: "Ich bin sicher, dass sein Vermächtnis als Bildhauer gesichert ist."

Roy Lichtenstein hat einen zentralen Beitrag zu einem Umbruch in der Kunst geleistet. Die Pop-Art schlug eine Brücke zwischen Populärkultur und klassischer Kunst, war anti-elitär, den Menschen zugewandt. In Europa wurden Werke von Andy Warhol, Allen Jones oder Lichtenstein in großem Umfang erstmals 1968 auf der Documenta 4 gezeigt. "Grell, bunt, marktschreierisch und rotzfrech fiel die amerikanische Pop-Art über uns Bildungsbürger her", war in einer zeitgenössischen Documenta-Besprechung zu lesen. "Zum ersten Mal erlebte ich", bekennt der Kritiker Heinz Holtmann dann in einer überraschenden Volte, "welch explosive Kraft die Kunst entwickeln kann."

1977 kehrte Lichtenstein für die Documenta 6 nach Kassel zurück. Die bedeutendste Auszeichnung für ihn war wohl der Kyoto-Preis, den er 1995 für sein Lebenswerk bekam. Zwei Jahre später, am  29. September 1997, starb Roy Lichtenstein an einer Lungenentzündung. Jetzt wäre der Künstler 100 Jahre alt geworden. Menschen aus Fleisch und Blut sind eben nicht so unvergänglich wie Disney-Figuren. Kunstwerke aber bisweilen schon.