Vor neun Jahren hatte Rosemarie Trockel ihre letzte Ausstellung in Großbritannien. Mit "Cosmos" verwandelte sie damals die Serpentine Gallery in eine Wunderkammer und brach nebenbei mit dem traditionellen Retrospektive-Format, in dem sie neben ihren eigenen auch ausgewählte Werke von "Art-Brut-Künstlerinnen" präsentierte. Jetzt meldet sich die Grande Dame der deutschen Konzeptkunst zurück – mit einer Galerieausstellung, die weit mehr als nur ihre aktuellsten Werke zeigt. "Why gravel, Ms. Smith?“ bei Sprüth Magers in London ist ein Sammelsurium aus neuen, alten und recycelten Ideen, aus Umwegen, Abweichungen und unerwarteten Pointen.
Ein wenig fühlt sich diese Ausstellung wie ein begehbares Notizheft an. Schon die erste Arbeit "Training" (2011), bestehend aus zwei fließend ineinander übergehenden weißen Keramikplatten, erinnert an die aufgeschlagenen Seiten eines Gästebuchs, das ja tatsächlich gerne mal in Galerien ausliegt. Auf die Keramiken folgen post-digitale Polyptychen, dann ein Cluster samt abstrakter Skulptur sowie Fotomontagen in einem schokoladenfarbenen Interieur; vier Kapitel verteilt über zwei Etagen.
Das Herzstück bilden zehn malerische "Moodboards" (alle 2021). Dafür wurden Trockels flüchtige und gelegentlich manipulierte iPhone-Schnappschüsse mit Ölfarbe auf Leinwand aufgetragen und in kryptischen Diptychen arrangiert. Und obwohl diese Paare zufällig angeordnet wurden, passen sie wie die Faust aufs Auge. Sie zeigen unter anderem Details von Dalís Schnurrbart, einer Coca-Cola-Flasche, einem zusammengesetzten Selbstporträt der Künstlerin mit ihrem Kollegen Andreas Schulze sowie eines von Trockels buntgestreiften Wollbildern. Hier trifft Altes auf Neues, Kunst auf Kommerz und Politisches auf Triviales. Auch der Sturm aufs Washingtoner Kapitol und der Brand in Trockels Kölner Villa werden thematisiert. Die Titel sind ähnlich markant: "White Hope" trifft auf "Rude Awakening", und "Magical Mirror" auf "Why not Gulp".
Sofas als Staffeleien
Dass Trockels Assistentinnen und Assistenten diese vielschichtigen Arbeiten ausgeführt haben, ist fast schon Nebensache. Trockel hat immer mal wieder andere ans Werk gelassen und damit Verwirrung über Fragen von Autorschaft, über Original und Kopie gestiftet. Vielmehr stechen Gemälde wie "Tiptoed on a Hill" (2021) in Bezug auf die brisante politische Lage hervor. Es wurde mit dem ahnungsvollen Orakel "The Russians Are Coming" versehen – dem gleichnamigen Titel einer totemhaften, ballonförmigen Textilskulptur von Rosemarie Trockel aus dem Jahr 2013. Hier wird diese malerisch wiedergegeben und mit einer Werbefotografie für Bottega Venetas Sommerkollektion von 2021 kombiniert. Zu sehen ist die Tochter von Monika Sprüth mit Marilyn-Monroe-Frisur.
Im Obergeschoss trifft man auf "Device" (2015), ein abstrahiertes Sofa aus weißen Sperrholzplatten. Statt Kissen wurden gerahmte Zeichnungen und Gemälde darauf drapiert. Teilweise wurden sie so übereinandergestapelt, dass man sie nicht vollständig erkennen kann. Eine der Grafiken zeigt einen auf Zehenspitzen stehenden Fuß - und man kann sich nur vorstellen, wie unbequem es wäre, auf diesem Sofa zu stehen und sich nach einem Buch zu recken.
Sofas tauchen sowieso vermehrt in Trockels Ausstellungspräsentationen auf: 2011 zeigte sie "Replace Me" auf der Biennale in Venedig; zwei Jahre später dann "Copy Me" in der Serpentine Gallery in London und zuletzt auch 2019 in Malmö. Manche der Couches sind in abgenutztem Zustand, während andere teilweise mit Plastikhussen verhüllt wurden. Dass die introvertierte Trockel gerne im Homeoffice arbeitet und Sofas als Staffeleien nutzt, ist seit 2010 bekannt. Damals nahm sie an "The New Décor: Artists and Interiors" teil, einer Ausstellung über Künstlerinnen und Künstler und ihre Räume in der Hayward Gallery.
Künstlerische Fortsetzung folgt
Nebenan findet man sich in einem warmen, schokoladenfarbenen Interieur samt Kaminsims und knarrenden Holzdielen wieder. Hier vermischt sich Ed Ruschas "Chocolate Room" (1970) mit Roald Dahls "Charlie und die Schokoladenfabrik". Dass Trockel auch selbst mit Schokolade hantiert hat, bewies sie in einer Kooperation zwischen dem Kölner Museum Ludwig und dem Schokoladenmuseum aus dem Jahr 2005. Das Ergebnis: "Viva Chocolatta!" (2005), ein Damenbein mit Netzstrumpfhose aus Vollmilchschokolade.
In diesem kleinen, aber feinen Kabinett zeigt Trockel auch einige Fotoarbeiten hinter Plexiglas: eine schwangere Künstlerin Thea Djordjadze; abfotografierte Buchdeckel von Agnes Martin und Brice Marden; und "Dreadnought" (2021), ein Filmstill, der an den Mona Lisa-Diebstahl von 1911 erinnert. Ebenfalls vertreten sind die Limousine, mit der Trockel damals nach dem Brand in ihrem Atelier umzog, eine gefaltete und verdrehte Einladungskarte zu einer Warhol-Ausstellung, sowie ein verpixeltes Foto von einem Kleiderständer aus der Casa Mollino, Carlos Mollinos geheimnisvoller Wohnung in Turin. Das alles sind Referenzen zu Trockels brodelndem Ideen-Atlas, der uns das Lesen zwischen den Zeilen lehrt.
Und wer sich fragt, was es mit "Why gravel, Ms. Smith?", dem Titel der Ausstellung, auf sich hat, wird fast schon enttäuscht. Denn was wie ein ikonisches Filmzitat klingt, ist eigentlich nur ein Hinweis auf einen beschwerlichen oder steinigen Weg. "Gravel" bedeutet nämlich so viel wie Schotter. Fortsetzung folgt.