Jeder tut es, früher oder später, beim Telefonieren, in der Schule, auf der Grußkarte. Es gibt sie weltweit, seit Tausenden von Jahren; sie erlebte Höhen und Tiefen, wurde als bloßes Mittel zum Zweck anderen Medien untergeordnet und wieder aufgewertet: die Zeichnung. Doch beim Versuch einer starren Definition dieses Mediums ist das Scheitern Programm. Die Linie als abstrahierendes Mittel, könnte man meinen, sei ein Wesensmerkmal der Zeichnung – und in der Kunsttheorie wird sie auch beinahe ausnahmslos als solches beschrieben - doch findet man bei näherer Betrachtung schnell Gegenbeispiele, wie die spätestens seit George Seurat bestehende Zeichentradition, die auf Helldunkelkontrasten und nicht auf Linien beruht.
Holger Broeker, Kurator des Wolfsburger Kunstmuseums, sieht die Linie jedoch als wesentliches Merkmal der Zeichnung und fordert in seiner aktuellen Ausstellung sogleich: "Walk the Line"! Was damit gemeint ist, weiß man nicht so genau. Eine Anspielung auf Johnny Cash? Eher nicht. "To walk the line" bedeutet im Deutschen etwa: die Regeln befolgen. Oder: sich an der Grenze bewegen. Zwei recht gegensätzliche Bedeutungen – wobei der Ausstellungstitel wohl eher auf letztere anspielt. Denn Regeln sollen hier, laut Broeker, nicht befolgt werden, eher gebrochen, oder zumindest Grenzen überschritten. Keine moralischen, sondern Grenzen von Räumlichkeit, Grenzen des Mediums. Außerdem möchte man Aktualität vermitteln, zeigen "was so geht", heute in der Zeichnung - so formulieren es zumindest die Kuratoren.
Perlen findet man hier durchaus. Zum Beispiel "Interlude" von Katie Armstrong, die ihre Tusche-Zeichnungen in einen Stop-Motion-Film überführt, der auf anachronistische Weise von einem Tag aus dem Leben der jungen Künstlerin erzählt, angefangen bei der morgendlichen Körperpflege im Badezimmer – dort nahm sie auch den elegischen Gesang auf, der das Video begleitet. Wie ein Tim Burton-Film entführt dieses einen in die traumartige und irgendwie düster-stimmungshafte Welt Katies, aus der man meint, nur durch einen Zauberwald wieder herauszufinden.
In Katharina Hinsbergs Installation "Spatien" rückt die Zeichnung ins Dreidimensionale: Schmale Fäden aus orangenem Seidenpapier hängen im ganzen Raum von der Decke, ihre undefinierbaren Enden knäulen sich am Boden zu etwas zusammen, das aussieht, wie der Salat aus verworrenen Fruchtgummischlangen im Süßwarenladen. Hier entsteht tatsächlich so etwas wie Interaktion, denn man kann die Installation betreten, im Laufe der Zeit wird sie sich durch ihren „Gebrauch“ verändern.
Carsten Nicolais Videoinstallation "unidisplay" erzeugt mit einer riesigen Leinwand und zwei Spiegeln unendliche, sich rhythmisch bewegende und immer wieder neuformende Linien, bei deren Anblick man fast meint, sich in einem Technoclub zu befinden – und Techno ist Zeitgeist, das weiß doch jeder.
Aber man wird nach all den Linien– abstrakten, figurativen, leuchtenden – und konzeptuellen Arbeiten das Gefühl nicht los, dass hier etwas fehlt, alles ein wenig zu angepasst ist, sich lieber in Sicherheit gewogen wird und eben doch keine wirklichen Grenzen überschritten. Wenn man sich schon auf die Linie bezieht und neuere Tendenzen zeigen will, wäre es doch interessant gewesen, mal etwas zu wagen, wie Santiago Sierra 1999 mit seiner "250 cm langen Linie tätowiert auf sechs bezahlte Personen".
Vielleicht ist diese Ausstellung in den weniger spektakulären Räumen des Museums aber auch einfach der unaufgeregte Ausgleich zur optisch laut schreienden Erwin Wurm-Schau – und verläuft deshalb in geraden Bahnen.