Regisseurin Andrea Arnold

"Jeder Film verändert mich"

Ein Bild ließ sie nicht mehr los: Ein nackter Mann auf einem Dach, umhüllt von Nebel. Wie daraus "Bird" wurde, ein Spielfilm zwischen sozialem und magischem Realismus, und warum Franz Rogowski die perfekte Besetzung ist, erzählt Regisseurin Andrea Arnold hier

Andrea Arnold, wie ist die Idee zu "Bird" entstanden?

Das begann wie bei fast all meinen Filmen mit einem einzelnen Bild, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Ich frage mich dann, was es bedeutet. Und wenn das Bild nicht mehr verschwindet, weiß ich, dass es mir etwas sagen will. Als ob es mich auf etwas stößt – wie ein Pochen auf die Stirn. Es lässt mich dann nicht mehr los, ich muss ihm dann auf die Spur kommen. Also fange ich an, draufloszuschreiben.

Welches unbewusste Bild war es diesmal?

Ein nackter Mann. Ein sehr großer, nackter Mann, der nachts auf dem Dach eines mehrstöckigen Apartmentblocks steht. Er ist umgeben von Nebel und hat einen langen Penis. Keine Ahnung, warum. Ich überlegte: Wo steht dieses Gebäude? Wohnt er da? Warum ist er nackt? Was bedeutet der lange Penis? Es ist ja nicht einfach nur eine Provokation, es symbolisiert etwas. Sieht den Mann dort oben jemand? Wenn ja, wer? Ich stelle mir all diese Fragen und schreibe Antworten, von denen ich die meisten nach einer Weile wieder verwerfe, weil ich mich verrannt habe. Ich bin da in einem ständigen Kampf mit mir selbst: zwischen dem, was mein Verstand denkt, dass es sein sollte, und dem, was das Bild selbst sein will.

Bei der Premiere in Cannes sagten Sie, es sei Ihnen noch nie so schwergefallen wie diesmal.

Aber nicht nur das Schreiben, auch der Dreh, der Schnitt, alles. In jedem meiner Filme steckt so viel Herzblut von mir und jeder ist herausfordernd. Dieser ganz besonders. Vor allem beim Drehen mussten wir auf einiges verzichten, was im Skript stand. Und diese Verluste waren für mich sehr schmerzhaft. Beim Schneiden war ich unendlich traurig, auch wenn es im fertigen Film niemandem außer mir auffällt, was fehlt. Er wurde am Ende doch ganz gut. 

Im Mittelpunkt steht dann aber kein Mann, sondern die zwölfjährige Bailey. Kommt Ihre Vorliebe für Außenseiter wie sie von Ihrer eigenen wilden Kindheit?

Keiner meiner Filme ist im strengen Sinne autobiografisch. Aber sie transportieren ein Gefühl und eine Haltung, mit der ich mich identifizieren kann. Ich wuchs in einer turbulenten Familie auf. Aber fühlt sich heute nicht jeder ein bisschen wie ein Außenseiter? Es ist mittlerweile zum Klischee geworden. Am Ende sind wir alle auf uns allein gestellt. Ich fühle mich in meinen Freundschaften sehr verbunden, ich habe eine liebevolle Familie. Und ich habe meine Leidenschaft zu einem Beruf gemacht, von dem ich leben kann. Ich kann mich wirklich sehr glücklich schätzen. Und trotzdem fühle ich mich, als würde ich nicht dazu passen und die Erwartungen nicht erfüllen. Der Klassiker, nachts um drei aus dem Schlaf aufzuschrecken und zu denken: "Nein, ich kann nicht."

Bailey ist dabei weit mehr als eine rebellische Jugendliche, vielschichtiger. Wie ist diese Figur entstanden?

Ich hatte mir zunächst vorgestellt, dass sie dauernd redet und Witze reißt, flucht und Unsinn macht. Das änderte sich, als ich Nykiya Adams für die Rolle fand. Sie ist so ganz anders, viel introvertierter, und so wandelte sich auch die Figur. Ich bin da sehr offen, es hat keinen Sinn, alles bis ins Kleinste festzulegen – weil es im Leben so viel Schönes gibt, das mich erstaunt und überrascht. Es wäre schade, sich dem Unerwarteten zu verschließen. Ich baue sie lieber spontan ein, injiziere den Zufall in kleine Momente des Films. Und ich hoffe, dieses Gefühl von Freiheit ist auf der Leinwand zu spüren.

Betrifft das auch den Ton, diese Gratwanderung zwischen sozialem und magischem Realismus?

Das kam mir schon beim Schreiben. Anfangs war ich etwas verloren, dachte: Wohin soll das führen? Muss das rational Sinn ergeben? Und dann habe ich beschlossen: Nein, muss es nicht. Ich muss es fühlen, das reicht. So entstand "Bird", der Vogelmann. In meiner Imagination war ich freier als jemals zuvor, auch wenn die Ausführung dann ironischerweise der restriktivste Teil des ganzen Drehs war, weil es technisch so aufwändig war. Aber ich habe Blut geleckt. Beim nächsten Mal werde ich mich in meinem Ausdruck noch mehr von Konventionen lösen.

Inwiefern?

Jeder Film verändert mich, jede Erfahrung macht mich zu einer anderen Person. Aber ich weiß immer erst danach, was es genau bedeutet. Und damit auch, was ich fühle und wohin ich mich entwickeln will. Aber im Moment spüre ich einen großen Drang, meine künstlerischen Freiheiten zu erweitern.

Diesen Vogelmann verkörpert der Berliner Schauspieler Franz Rogowski. Wie kamen Sie auf ihn?

Er fiel mir zum ersten Mal in "Transit" auf. Ich liebte sein Gesicht und wie er sich bewegt. Es gibt eine Szene in dem Film, in der er einfach nur die Straße entlanggeht. Ich war fasziniert, es liegt eine große Schönheit in seinen Bewegungen. Und dann fiel er mir in "Große Freiheit" auf. Wie bei allen Schauspielenden vertraute ich meinem Instinkt, selbst wenn sie auf den ersten Blick nicht zur Rolle passen. Auch bei Franz habe ich mich nicht getäuscht. Er hat nicht nur eine unglaubliche Präsenz – er ist eine Seele von Mensch: mutig, freundlich, witzig, großzügig und klug. I love him!