In der christlichen Ikonografie ist der Pelikan ein Symbol für radikale Aufopferung. Laut des "Physiologus", einem frühchristlichen Naturführer aus dem 2. bis 4. Jahrhundert, öffnet sich eine Pelikanmutter im Falle des Todes eines ihrer Jungen mit dem Schnabel selbst ihre Brust, bis Blut fließt. Dieses lässt sie dann auf das Küken herabtropfen – das durch den kraftvollen Saft wieder zum Leben erweckt wird.
Dieser Mythos, der sich wohl aus der Tatsache speist, dass junge Pelikane ihr Futter aus dem Kehlsack der Eltern holen, beschäftigt auch die Schriftstellerin und Fotografin Rabea Edel. In ihrem Buch "A Second Beating Heart" (Shift Books) erzählt sie in 42 Fotografien und einem literarischen Text von einer Mutter, die nach der Geburt ihres Kindes jahrelang das Haus nicht verlässt. Ein selbst auferlegter Lockdown sozusagen, in dem ihr Zuhause selbst eine Art Gebärmutter wird, die Schutz bieten soll, aber auch die Welt und andere Menschen aussperrt. In einer Szene steht die Hauptfigur im Bad und beginnt plötzlich zu bluten. Mit den Fingern reibt sie sich das Rot ins Gesicht, bis es vom Kinn tropft. Sie will Pelikanin sein.
"A Second Beating Heart" handelt von einer surrealen Zeit, in dem ein kleines Wesen zuerst im Körper der Mutter und dann plötzlich außerhalb Gestalt annimmt. "Das zweite Herz hat sich einen Körper angezogen", schreibt Rabea Edel in ihrem Text. Ihre Bilder zeigen die Nähe zwischen Mutter und Kind: die Babyhaut an der Erwachsenenhaut, das physische Verschmelzen zweier Wesen, die mal eins waren und nun mit ihren eigenen Körpern zurechtkommen müssen.
Bilder für "die Geburt einer Mutter"
Aber die Fotografien zeigen auch die Trennung, die die Hauptfigur von der Außenwelt empfindet. Immer wieder ist die durch Gardinen, Fensterscheiben oder eine Plastiktüte wie durch eine Membran von ihrer Umgebung getrennt. Das Licht darf nie ungedämpft in die Mutter-Kind-Höhle dringen. Farbe taucht in ihren entsättigten Stillleben nur sehr sparsam auf: hellgrüne Trauben im Schoß auf wollweißem Nachthemd, eine Orange zwischen den Fingern, das rote Blut im Gesicht.
Rabea Edel (geboren 1982 in Bremerhaven) ist Schriftstellerin ("Ein dunkler Moment") und Absolventin der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin. In "A Second Beating Heart" findet sie Bilder für "die Geburt einer Mutter", wie es im Begleittext heißt. Die Bilder sind sorgfältig inszeniert und erinnern zuweilen an viktorianische Interieurs, trotzdem wirken sie intim und fangen die widersprüchlichen Gefühle nach der Geburt eines Kinder ein; die Gewissheit, nie wieder nur für sich selbst verantwortlich zu sein.
Derzeit bemüht sich die Kunst verstärkt um einen differenzierten Blick auf Elternschaft und Care-Arbeit jenseits von beseelter Madonna mit Kind und der selbstlosen Pelikan-Mutter. In Mannheim ist gerade die Gruppenschau "Mutter!" zu sehen, und mehrere Initiativen haben es sich zum Ziel gesetzt, den Kulturbetrieb elternfreundlicher zu machen. Sich dauerhaft von der Welt zurückzuziehen, ist natürlich keine Lösung im Konflikt zwischen Kindererziehung und Kunstschaffen. Und so macht sich Rabea Edels Figur am Ende des Buches vorsichtig mit dem Nachwuchs auf den Weg ins Außen. "Einen Schritt und noch einen."