Odessa gleicht zurzeit einer Festung. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine bereiten sich Soldaten und Zivilbevölkerung auf die Verteidigung der geografisch, ökonomisch und logistisch bedeutsamen Schwarzmeerstadt vor. Bislang stand sie nicht im Zentrum des Kriegs. Am Wochenende aber ist der Ort mit dem größten Hafen des Landes Ziel eines russischen Raketenangriffs geworden. Und von der Seeseite ist Odessa mittlerweile durch russische Kriegsschiffe blockiert.
Hätten die Bewohnerinnen und Bewohner sich Mitte der 90er-Jahre ein solches Szenario vorstellen können? Der US-amerikanische Fotograf Philip-Lorca diCorcia hat 1996 die einst so lebendige Stadt besucht und das blühende Leben der "Perle am Schwarzen Meer" in Hunderten von Aufnahmen festgehalten. Die Fotografien zeigen sonnigen, unbeschwerten Alltag: Strandszenerien, Menschen in der Straßenbahn oder die berühmte Potemkinsche Treppe.
Der Fotograf ist für inszenierte Bilder mit durchkonstruierten Dramaturgien bekannt, doch aus den Odessa-Bildern scheint eine melancholische Leichtigkeit heraus. Heute wirkt es, als wäre dies die Hoffnung auf eine unbestimmte, aber doch gute Zukunft kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine. Heute wissen wir aber auch: Es war die Zeit zwischen zwei Kriegen, dem Kalten Krieg und dem Ukraine-Russland-Krieg dieser Tage.
Wie sagte diCorcia im Monopol-Interview 2008? "Künstler wollen weggucken oder überwältigen. Die große Herausforderung besteht darin, keines von beidem zu tun." In den Odessa-Fotografien ist der Künstler ganz Herr seines eigenen Anspruchs. Abzüge werden nun im Rahmen einer Wohltätigkeitsausstellung der Galerie Sprüth Magers online verkauft. Eine Auswahl der Werke wird auch an den Standorten Berlin, London und Los Angeles gezeigt. Der gesamte Erlös wird dem Roten Kreuz zur Bewältigung der humanitären Krise in der Ukraine gespendet.