Paul Verhoeven im Interview

"Das Leben ist brutal"

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Paul Verhoeven 20o5 in den Filmstudios Babelsberg bei der Arbeit an seinem Film "Black Book"

Ein Meister des europäischen Autorenkinos feiert am Mittwoch seinen 80.Geburtstag. Paul Verhoeven, der auch in Hollywood Karriere machte, brachte zuletzt "Elle" mit einer grandiosen Isabelle Huppert ins Kino. Zur Berlinale 2017 traf Jens Hinrichsen den damaligen Jurypräsidenten des Festivals, dessen Neuproduktion "Benedetta", mit Charlotte Rampling, Anfang 2019 startet

Die beiden "Golden Globes" für "Elle" und Hauptdarstellerin Isabelle Huppert können nicht darüber hinwegtäuschen: Paul Verhoeven bleibt einer der umstrittensten Regisseure des Weltkinos. Seine Filme werden missverstanden, bekämpft, unterschätzt. 1938 in Amsterdam geboren, wird Verhoeven von Krieg und deutscher Besatzung geprägt. Gewalt, versehrte Körper, das "Überleben in einer von Arschlöchern bevölkerten Welt" (Jacques Rivette) werden zu Konstanten seines Werks. Mit "Türkische Früchte" gelingt ihm 1973 der Durchbruch als Regisseur. "Spetters" (1980), das Porträt einer niederländischen Jugendgang, wird vom Establishment wie von der Gegenkultur gleichermaßen angegriffen. Mitte der 80er wechselt Verhoeven nach Hollywood, dreht dort legendäre Genrefilme wie "RoboCop" und "Total Recall" und macht Sharon Stone 1992 mit "Basic Instinct" zum Star. Ab dem Megaflop "Showgirls" (1995) geht es in Hollywood für ihn bergab. Nach dem missglückten "Hollow Man" (USA 2000) legt Verhoeven eine lange Regiepause ein und inszeniert 2006 mit dem furiosen "Black Book" – ein verstörendes Bild der niederländischen Gesellschaft der Okkupationszeit – sein europäisches Comeback. Monopol hat den Regisseur und Berlinale-Jurypräsidenten zum Gespräch getroffen.

Paul Verhoeven, die Berlinale-Jury unter Ihrem Vorsitz wird am 18. Februar lauter schöne Preise vergeben. Wie schlimm war es eigentlich für Sie, 1996 für Ihren Film "Showgirls" sieben Goldene Himbeeren einstecken zu müssen?
Zur Verleihung bin ich ohne Zittern gegangen. Erstens war "Showgirls" da schon bei Kritik und Publikum untendurch. Zweitens wusste ich, dass das Fernsehen kommen würde. Da fand ich es eine gute Idee – als großer Fan von Jesus – vor aller Öffentlichkeit die sprichwörtliche andere Wange auch noch hinzuhalten. Es fing allerdings beängstigend an. Zur allgemeinen Belustigung wurden Ausschnitte des Films gezeigt. Doch im Lauf des Abends kippte die Stimmung. Ich war der Erste, der die Trophäe überhaupt persönlich entgegennahm, und dann gleich siebenmal. Am Ende wurde gejubelt, die Leute skandierten "Showgirls, Showgirls!" Eine kathartische Erfahrung.

Inzwischen hat der Film viele Verehrer. Ihre Goldenen Himbeeren stehen bestimmt auf dem Kamin.
Wo denken Sie hin? Der Preis war so ein getöpfertes, mit Goldfarbe angestrichenes Ding. Es gab nur eine einzige Himbeere für alle Kategorien. Immer, wenn ich von der Bühne abging, musste ich den Preis wieder abgeben, um ihn beim nächsten Mal neu in die Hand gedrückt zu bekommen. Mit nach Hause nehmen durfte ich ihn auch nicht.

"Showgirls" ist damals eindeutig gefloppt. Andere Filme von Ihnen waren sehr erfolgreich – aber fast alle umstritten. Jetzt kommt „Elle“ in die deutschen Kinos, mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Da fangen die Missverständnisse schon an, wenn man nur den Plot nacherzählt: Michèle beginnt eine Beziehung mit ihrem Vergewaltiger …
Der Plot sagt eben gar nichts über einen Film. Es sind die Lücken in der Geschichte, das, was sich nicht erklären lässt, was die Kunst dieses Films ausmacht. Das ist doch wohl bei Kunst überhaupt wichtig: dass man nicht alles erklärt. Sonst ist es Kitsch. Philippe Djian, von dem die Romanvorlage "Oh…" stammt, schreibt schließlich auch nirgendwo: "Und jetzt geht Michèle diese sadomasochistische Beziehung ein, weil sie in der Vergangenheit so viel bestraft wurde." Man sollte Leerstellen lassen, die das Publikum füllen kann.

Wie viel gezielte Provokation steckt in "Elle" und anderen Filmen?
Das Etikett "Skandalregisseur" klebt ja schon lange an mir. Die Leute begreifen nicht, dass man sich Provokation nicht vornehmen kann. Provokation passiert. Mir geht es darum, Dinge zu zeigen, die man eigentlich nicht zeigen soll. Der Plan ist: ehrlich zu sich selbst zu sein, Selbstzensur abzuschaffen. Ich mache, was ich will, egal, ob es als amoralisch, unethisch, aggressiv oder politisch inkorrekt bezeichnet wird.

Sex und Gewalt sind in "Elle" nicht so explizit ausgestellt wie in anderen Verhoeven-Filmen, woran liegt das?
Ich weiß gar nicht, ob das stimmt. Es gibt ja mehrere Vergewaltigungsszenen. Beim ersten Mal nur auf der Soundebene und indirekt über den Blick der Katze vermittelt, die die Szene beobachtet, das ist richtig. Aber beim zweiten Mal haben wir das sehr brutal durchchoreografiert. Und vergessen Sie die Schere nicht, die Michèle einmal mit Wucht in die Hand ihres Angreifers rammt. Aber vielleicht trifft es zu, dass "Elle" im Großen und Ganzen weniger gewalttätig wirkt als andere Filme von mir. Dieser Film kreist um die weibliche Hauptfigur. Es geht um die Frage, wer diese Frau ist. Ich möchte allerdings nicht behaupten, dass diese Frage am Ende beantwortet wird. Man kann sich mit Michèle kaum identifizieren. Es fällt schwer, ihren Handlungszügen zu folgen, vor allem, wenn sie eine Beziehung zu ihrem Vergewaltiger eingeht. Aber: Neben dem Drehbuch ist es dem Talent der wundervollen Isabelle Huppert zu verdanken, dass wir diesen Charakter akzeptieren – und der Frau durch den Film hindurch auf den Fersen bleiben.

Wie die von Sharon Stone gespielte Romanautorin Catherine Tramell in "Basic Instinct" sagt: Auf die "Suspension of Disbelief" kommt es an, auf Erzählkunst, die Unwahrscheinliches beglaubigt. Michèle ist Produzentin von Computerspielen. Das zieht eine fantastische Ebene ein, einen erweiterten Möglichkeitsraum.
Im Roman leitet Michèle ein Autorenkollektiv für Film und Fernsehen. Drehbuchgespräche hätten in der Verfilmung visuell wenig herge­geben. Meine Tochter Helen Verhoeven, die Malerin und Bildhauerin ist, schlug bei einem Abendessen vor, wir sollten Michèle zur Direktorin einer Videospielfirma machen. Ich wusste nicht viel über Spiele, aber unser Drehbuchautor David Birke kannte sich aus und sprang sofort drauf an. Die Idee mit der Videospielfirma eröffnete uns dann viele Möglichkeiten für eine Parallelhandlung, bis hin zu einem Spiel namens "Dark Rebirth", das in der Company entwickelt wird und den Triumph der Hauptfigur als Simulation vorwegnimmt.

Am Schluss ist ein weiblicher Avatar als Siegertyp auf den Bildschirmen zu sehen. In einer früheren Version des Spiels steckt ein Alien seine Tentakel in den Kopf eines weiblichen Opfers. So ähnlich wie in "Starship Troopers", Ihrer grausig-satirischen Variante von "Star Wars". Warum sind Ihre Filme immer so brutal?
Weil das Leben brutal ist! Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen? Und nicht nur auf der Erde, im Nahen Osten, wo auch immer, ist Gewalt an der Tagesordnung. Das ganze Universum ist brutal. Da herrscht Gewalt, Gewalt, Gewalt. Sehen Sie sich die Fotos des Hubble-Teleskops an, Bilder sich gegenseitig fressender Galaxien. Alles, was existiert, wird kontinuierlich zerstört. Im 20. Jahrhundert sind über 150 Millionen Menschen durch Kriege umgekommen.

Den Zweiten Weltkrieg haben Sie hautnah erlebt.
Ja, ich war ein Kleinkind, als die Nazis die Niederlande besetzten. Ich habe viele Tote, viel Blut gesehen, Bombardierungen erlebt. So etwas prägt einen natürlich.

Nach dem Krieg wollten Sie zunächst bildender Künstler werden. Stimmt das?
Ja, mit 17 war ich ein Jahr in Frankreich und habe in Paris eine Kunstschule besucht. Ich habe viel gezeichnet und gemalt damals, war ein großer Fan von René Magritte. Also habe ich vor allem surrealistische Bilder gemalt.

Sind Ihre Filme auch von Kunstwerken beeinflusst?
Das ist von Fall zu Fall verschieden. Als wir Anfang der 80er "Der vierte Mann" drehten, haben wir zwei unterschiedliche Bildtraditionen zitiert. Der Protagonist neigt zu Wahnvorstellungen, aber womöglich sind seine Befürchtungen auch begründet – dass er in die Fänge einer Schwarzen Witwe geraten ist, die schon drei Ehemänner umgebracht haben könnte. Da die Polizei aber von drei Unfällen ausgeht, bleibt die Rolle der schönen Renée Soutendijk durchweg im Zwielicht – wie zehn Jahre später bei Sharon Stone in "Basic Instinct". Wie bringt man dieses Schwanken auf die Leinwand? In Farbe und Beleuchtung des "Vierten Manns" haben wir uns an den klaren Bildwelten von Edward Hopper orientiert. Die Visionen der männlichen Hauptfigur stammen aus Gemälden von Symbolisten wie Franz von Stuck und Gustave Moreau, auch Figurationen von Salvador Dalí haben wir zitiert.

Wie war das bei "Elle"?
Da sprachen wir nicht über Gemälde. Die Dinge sollten aussehen, wie wir sie heute wahrnehmen. Ich wollte einen realistischen Look, der dem trockenen Erzählstil von Philippe Djians Roman entsprach. Deshalb habe ich mir Stéphane Fontaine als Kameramann ausgesucht, wegen seines fast dokumentarischen Stils für "Ein Prophet" und "Der Geschmack von Rost und Knochen". Wenn Sie jetzt "Elle" anschauen, können Sie gar nicht erkennen, wie die Szenen ausgeleuchtet sind. Als hätten wir nur mit dem vorhandenen Licht gearbeitet. Im Gegenteil zu Hollywood, wo meistens Schönfärberei betrieben wird. Was bei "Elle" noch ungewöhnlich ist: Es gab zwei Handkameras und zwei gleichberechtigte Kameramänner. Daraus resultiert eine sehr lässige Bildsprache. Stéphane Fontaine wählte einen ehemaligen Assistenten aus, der inzwischen ebenfalls als Director of Photography arbeitete. Das Zusammenspiel der beiden funktionierte wunderbar.

Auch die Geschichten, die Sie erzählen, sind von Multiperspektive und Dialektik geprägt. Es gibt darin keine klaren Gewissheiten, keine simplen Lösungen. Sie sind – im Vergleich zu dem, was zurzeit in der politischen Landschaft passiert – ein antipopulistischer Filmemacher, oder?
Das könnte man so sagen. Auf jeden Fall betreibe ich Anti-Propaganda in meinen Filmen. In "Starship Troopers" habe ich ein faschistisches Utopia in Amerika beschrieben, dazu habe ich viele Einstellungen aus Leni Riefenstahls Propagandafilm "Triumph des Willens" kopiert. Womöglich sind wir heute gar nicht weit von diesem Entwurf entfernt, wenn die USA künftig von Milliardären und Generälen regiert werden. Leider haben Ende der 90er nicht alle die Ironie des Unternehmens begriffen, einen faschistoiden Science-Fiction-Roman mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und eine Kritik am neokonservativen Denken der Zeit zu formulieren. Da steht ein Colonel in einer SS-Uniform vor den jungen Sternenkriegern und sagt: "Nun, wir mussten viele Soldaten opfern und müssen übrigens vielleicht auch Sie opfern." Das ist doch ein ungeheuerlicher Satz, aus dem schwerlich eine Botschaft des Filmemachers herauszulesen ist!

Wo Sie die Riefenstahl-Ästhetik in "Starship Troopers" ansprechen: Was ist eigentlich aus Ihrem Plan geworden, Leni Riefenstahls Leben zu verfilmen?
Es gab mehrere Anläufe. Zeitweilig wollte mich der deutsche Produzent Thomas Schühly unbedingt für die Regie eines Films gewinnen, der auf Riefenstahls Memoiren basieren sollte. Schühly hatte damals mit der hochbetagten Riefenstahl gesprochen. Stellen Sie sich vor, die alte Dame sagte: "Sharon Stone soll mich spielen!" (Lacht) Ich schwöre, das hat sie gesagt! Zehn Jahre später kam Sharon selbst auf mich zu – auch sie wollte unbedingt ein Riefenstahl-Biopic mit mir drehen. Ich kam zu dem Schluss, dass man für einen solchen Film den Nürnberger Parteitag von 1934 – Gegenstand von "Triumph des Willens" – rekonstruieren müsste und auch die Olympiade in Berlin. "Wie viel Geld hast du?", fragte ich Sharon Stone. Es wären an die 100 Millionen Dollar nötig gewesen. So haben wir es lieber gelassen.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Monopol 2/2017