Es gibt einige wundervolle Erinnerungen, die ich mit Paul McCarthys Kunst verbinde, eine der schönsten war ein Erlebnis im Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt. Dort wurde im Jahr 2003 im Rahmen der Gruppenausstellung "Das lebendige Museum" McCarthy's "Pinocchio Pipehose Householddilemma" aus dem Jahr 1994 gezeigt. Ein kleines Holzhaus, in dem ein nicht von außen einsehbares Video lief, war für die Museumsbesucher nur im Pinocchio-Kostüm betretbar. Freundliche MMK-Mitarbeiter standen bereit, um einem beim Anlegen des Kostüms zu helfen, und wenn man sich in das kleine Häuschen begeben hatte, wurde hinter dem verkleideten Gast die Tür zugesperrt.
So kam es, dass ein eitles Upper-Class Paar mit ihrem kleinem nassgescheitelten und bereits als reicher Erwachsener ausstaffierten Sohn den Raum betrat und entzückt ausrief "Schau mal wie süß! Pinocchio!" Und flugs wurde entschieden, das Kind in ein Pinocchio-Kostüm zu stopfen und den süßen Kinderfilm schauen zu lassen. Es gab in diesem Moment eine rührend stillschweigende Verbindung zwischen dem Aufsichtspersonal und mir. Dezentes Lächeln wurde heimlich geteilt. Das arme reiche Kind wurde verkleidet, die Tür geöffnet, der Spross unter dem ahnungslosen Zureden der Eltern hineingeführt, die Tür geschlossen und verriegelt, und alles weitere weiß dann wahrscheinlich der Therapeut des Jungen.
Paul McCarthys Kunst lebt von Ekel und Trauma, von ekstatisch verschmiertem Ketchup, Schokosauce, die wie Dünnschiss auf verdrehten Körpern klebt, penetrierten künstlichen und echten Körperöffnungen, Kunstblut, Zerstörung, Gewalt und Kontrollverlust. All das gab es schon in seinen frühen Arbeiten, was seit den 1990ern immer mehr hinzukam, und inzwischen ähnlich exzessiv wie die Gewalt wuchert, ist die halb verliebte, halb feindliche Übernahme der Technologie und Ikonografie von Hollywood und Disneyland.
Blockbuster-Produzent der Kunstwelt
Als ich 2005 mit einer meiner engsten Freundinnen zum Haus der Kunst in München fuhr, um McCarthys große Werkschau "Lala Land Parodie Paradies" zu sehen, waren wir beide so geplättet von der schieren Monumentalität seiner damals neuen Installationen, dass wir (beide auch Künstler und Fans von Disney und Hollywood) mit nagendem Neid und stiller Ehrfurcht feststellen mussten, dass man das wohl nicht mehr toppen kann. Denn McCarthy ist inzwischen tatsächlich Walt Disney (in seiner Produktion "White Snow" tritt er auch als "Walt Paul" in prothetischem Make-Up als Disney-Doppelgänger auf).
McCarthy ist einer der wenigen Blockbuster-Produzenten der Kunstwelt. Wie die düstere Gegenwelt von "Stranger Things" hat er ein so gigantomanisches paralleles Universum errichtet, dass man wie bei Disney oder Hollywood eben inzwischen eher von einem Imperium sprechen muss. So entsteht eine Art Parallel-Hollywood. Ein kleines bisschen ist es wie damals Warhol's Factory mit ihren eigenen Stars und Filmen, nur sehr viel größer, professioneller und eben unter anderen Vorzeichen.
Paul McCarthy hat daher auch kein klassisches Atelier, sondern riesige Produktionshallen in Hollywood mit Dutzenden von Mitarbeitern, die ihm haushohe Piratenschiffe, Hangar-füllende begehbare Zauberwälder, gigantische Aufblasfiguren oder komplizierte High-Tech-Animatronic-Figuren bauen. Nicht nur so ähnlich wie in Hollywood und Disneyland, sondern genauso wie dort. Allerdings unter der Regie eines Mannes, dessen Themen quasi die unbewusste Unterseite all der klassischen Mythen und Ikonen dieser Traumwelten sind.
Zunehmend wächst nun also zusammen, was eigentlich auch zusammengehört: Das Ausgeklammerte und das Ausklammernde. Die grotesken, ekligen und oft kindlich-entgrenzten Figuren McCarthys, früher von ihm selbst in gekauften Masken und Kostümen in kleinen Studioszenerien dargestellt, inzwischen von Schauspielern in eigens produziertem prothetischem Make-Up in ausufernden elaborierten Filmsets verkörpert, treffen nun immer mehr auf die Architektur und Technologie einer Welt, die genau diese "kaputten" und gewalttätigen Figuren ständig in "gereinigter" und ungefährlicher Form nutzt.
Piraten, Prinzessinnen, Märchenfiguren, Fernsehköche, Kindersendungs-Moderatoren, Zauber-Gnome, Cowboys, all diese idealisierten und von Widersprüchen bereinigten US-amerikanischen Archetypen werden von Paul McCarthy zurückgezerrt in ein ursprünglichere, brutale und oft groteske Entzauberungsmaschine, fast so wie Spielbergs "Poltergeist", der einem mit Monstern und verwesenden Ungeheuern zeigt, dass das schöne Einfamilienhaus eben leider auf einem Indianerfriedhof gebaut wurde. Diese Erzählung scheint Paul McCarthys Hauptnarrativ zu sein, und man kann durch ihre konstante Wiederholung durchaus ermüden. Doch gibt es zum Glück darüber hinaus noch andere Erzählstränge in seinem immer opulenter werdenden Universum.
Technologische Magie, Handwerk, Illusion
Die Ablehnung der reduzierten und harmoniesüchtigen Strukturen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie steht bei McCarthy einer tiefen Faszination für deren Technologien gegenüber. Und so durchzieht McCarthys Kunst auch eine Liebe zur Kulisse, zum Trick, zur Vorder-und Hinterbühne. Stets lässt er bei seinen Bauten und Figuren die Effektmaschinerie offen liegen. So sieht man selbst bei seinen noch so elaborierten Animatronic-Figuren zugleich auch die Steuerung und die hydraulischen und elektronischen Elemente, die Kulissen sind oft wie in analogen Hollywood-Effekt-Produktionen der 1970er und 1980er auf Holzpodeste aufgebaut, Rückwände sind zugänglich und sichtbar, und oft liegen noch Werkzeuge, Farben und Unmengen von Krimskrams herum.
Durch eine McCarthy-Installation zu gehen ist ein bisschen wie ein altes "Cinefex"-Magazin zu lesen, in dem die Spezialeffekte berühmter Blockbuster wie "Ghostbusters", "Blade Runner" oder "Star Wars" mit "Behind the Scenes"-Fotos erklärt werden. Man staunt über die technologische Magie, das Handwerk, die Illusion. Paul McCarthy ist einer der wenigen Künstler, der Disneyland und Hollywood als echte Kunstformen anerkennt und sich in einer obsessiven Hassliebe daran abarbeitet. Mit ihrer enormen Liebe zum Detail und dessen Zerstörung, Verdrehung und prozesshafter Veränderung kann man McCarthys Arbeiten auch als gigantische Liebeserklärung an eben die Fluchtwelten interpretieren, die er um deren neurotisch verborgenen dunklen Seiten ergänzt.
Geld, Geld und nochmals Geld
Neidvoll muss ich gestehen: Paul McCarthy allein verfügt über die Mittel, diese extrem kostspieligen Kunstformen in der genau Qualität und Quantität zu nutzen, wie sonst nur Hollywood oder Disneyland es tun können. Leicht lässt sich sagen: "Er entschied sich, ein haushohes Piratenschiff voller unfassbar teurer Animatronics zu bauen und das dann als Kulisse für eine mit Schauspielern und Ketchup, künstlichen abgehackten Beinen und anderen Groteskerien gefüllten Videofilm zu nutzen", doch die Realisierung solcher "Entscheidungen" werden eben wie auch bei den großen Vorbildern erst ermöglicht durch Geld, Geld und nochmals Geld. Und zwar richtig krass viel Geld. Hauser & Wirth eben. Geld.
Geld versaut so manches. Bei Künstlern wie Matthew Barney konnte man zusehen, wie der scheinbar unbegrenzte Zugriff auf Geld, Macht und Technologie in eine immer narzisstischere Selbstbespiegelung abdrehte, während man staunend und immer verdatterter den Kopf schüttelte. Bei anderen Megalomanen wie Jeff Koons wiederum sieht man, wie eben genau dieser groteske Kunstmarkt-Exzess an Geld und Möglichkeiten in sich wieder zu einem leise aus dem Inneren der Hölle heraus geflüsterten Thema werden kann.
Auch Paul McCarthy verfolgt in seinen ständig exzessiver werdenden Produktionen genau das System "Bigger is Better", das seit langem eine Maxime der Unterhaltungsindustrie ist. Die machthaberische Zurschaustellung von Größe und Aufwand die seine Arbeiten so erlangen scheinen ihnen nicht zu schaden, jedenfalls nicht, so lange sie mit einem Bein in der Welt des Entertainments stehen.
Höllische Freude
Ob jedoch zum Beispiel die gigantischen, meterhohen und tonnenschweren verzerrten "WS Spinoffs"-Skulpturen von Disney-Merchandise wirklich auch noch aus Walnussholz gefräst werden mussten, um im White Cube von Hauser & Wirth an Milliardäre verkauft zu werden, ist eine andere Frage. Ich finde: Nein. Aber auf mich hört ja keiner ...
Paul McCarthy, der nun 75 wird, baut jedenfalls in den nächsten Jahren hoffentlich noch viele viele, noch größere, groteskere und atemberaubendere Sets, reizt die Geldmaschine aus, bis es kracht, und forscht mit Kulissen und Ketchup an den Grenzen von verborgenen Obsessionen, dem Rätsel von Körper und Geist, Piraten, Cowboys und Prinzessinnen, und all dem, was uns in den letzten 100 Jahren geprägt hat, wenn wir nicht unter einem Stein gelebt haben. Ich danke ihm herzlich dafür, mir bereitet das alles im wahrsten Sinne des Wortes höllische Freude.
Lang lebe Paul McCarthy! Happy Birthday! (Ich wäre gespannt, wie eine Paul-McCarthy-Version einer proto-amerikanischen "Happy Birthday"-Kinderparty aussähe ... Jetzt aber Schluss).