Das Spektrum dieser Schau ist natürlich gewaltig. "Paris Magnétique" im Jüdischen Museum Berlin zeigt rund 120 Werke von über 30 Kunstschaffenden aus drei Jahrzehnten. Allein zwei gemalte Porträts aus dem Jahr 1907, die an einer Ecke nebeneinander hängen, geben einen ersten Eindruck der Vielfalt. Léopold Gottlieb, der aus dem Gebiet der heutigen Ukraine drei Jahre zuvor nach Paris gekommen war, malte ein Selbstporträt im melancholischen Stil und in verhaltenen Farben. Auf dem Querformat rückt er sich nach links, dezentriert, blasshäutig, die Augen geschlossen. Ganz anders Sonia Delaunays "Philomène" daneben, das Bildnis einer Frau in leuchtend roter Bluse, ihre Augen weit offen, im Hintergrund der scharfe Farbkontrast roter und blauer Blüten. Ein Farbfest – und viele würden noch folgen.
Sonia Terk wurde 1885 ebenfalls in der Ukraine geboren, studierte in Karlsruhe, ging 1906 nach Paris, heiratete 1910 Robert Delaunay (der 1941 starb), überlebte den Naziterror in Südfrankreich und starb 1979 mit 94 Jahren in Paris. Andere jüdische Künstler und Künstlerinnen, die die Pariser Szene bereichert hatten, wurden ermordet, darunter Otto Freundlich, der im Vernichtungslager Sobibor starb, oder Rudolf Levy, der 1944 mutmaßlich schon beim Transport nach Auschwitz ums Leben kam.
In zehn Kapiteln erzählt die Ausstellung "Paris Magnétique 1905-1940" von dem herausragenden Beitrag jüdischer Künstlerinnen und Künstler zur Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, genauer: bis zum Jahr 1940, als deutsche Truppen Paris besetzten. Neben geläufigen Namen wie Marc Chagall, Amedeo Modigliani, Chaim Soutine oder eben Sonia Delaunay werden auch weniger bekannte Figuren gewürdigt, darunter die großartige Bildhauerin Chana Orloff oder Jules Pascin, dessen Malereien und Zeichnungen von einem anarchischen bis traurigen Humor geprägt sind.
Eher gemeinsames Schicksal als gemeinsamer Stil
Bereits 2021 hatte das Pariser Musée d'Art et d'Histoire du judaïsme die Schau "Chagall, Modigliani, Soutine" im Programm, die der "École de Paris" nachspürte. Der Kunstkritiker André Warnod hatte den Begriff 1925 geprägt, fand in dieser "Schule" aber weder ein gemeinsames Anliegen oder einen bestimmten Stil, vielmehr ein gemeinsames Schicksal: Das Gros der Kunstschaffenden der lockeren Gruppierung kam aus Osteuropa, viele von ihnen stammten aus jüdischen Familien, speziell diejenigen aus dem Westen Russlands – wo heute die Ukraine und Belarus eigenständige Staaten bilden – flohen vor blutigen antisemitischen Pogromen.
Das Konzept seiner Partnerinstitution hat das Jüdische Museum übernommen, doch in Berlin – mit anderthalbjährigem Abstand – wurde die Ausstellung noch einmal überarbeitet. "Paris Magnétique" versteht sich als Fortsetzung der Pariser Schau.
Im 19. Jahrhundert war Paris zur Welthauptstadt der Künste avanciert, seine Anziehungskraft war enorm. Hinzu kam, dass Frankreich den Juden als erstes Land volle Bürgerrechte gewährte – nach 1900 zog das viele jüdische Kunstschaffende aus dem Russischen Reich an. Paris versprach grenzenlose Freiheiten, obschon die materiellen Bedingungen auch hier nicht rosig waren.
Zwischen Krieg und Kunst
Wichtiger Anlaufpunkt war etwa das Café du Dôme am Montparnasse. Viele jüdische Kunstschaffende trafen sich zudem in der "Ruche", einem großen Atelierkomplex, den der Bildhauer Alfred Boucher 1902 eingerichtet hatte – in einem von Gustave Eiffel ursprünglich als Museumsbau errichteten Gebäude. In der "Ruche" arbeiten etwa Chagall, Modigliani oder Ossip Zadkine, die vorherrschende Sprache ist Jiddisch. Einige der Künstler gründen die Zeitschrift "Makhmadim", die einen "jüdischen Stil" der Skulptur definieren soll.
Die Station "La grande guerre" beschreibt das Klima des Ersten Weltkriegs. Künstler wie Léopold Gottlieb werden in den Krieg hineingezogen oder kehren in ihre Heimatländer zurück, um auf der Gegenseite zu kämpfen, wie etwa der Deutsche Walter Bondy. Ossip Zadkine, der 1915 beginnt als Krankenträger zu arbeiten, fertigt rasche Skizzen seiner täglichen Kriegserlebnisse an. Ein Album mit 20 Radierungen, darunter "Die Feldküche, Im Graben" ist in der Ausstellung zu sehen.
Als Anerkennung für seine Tapferkeit im Krieg wird Zadkine, der 1890 in Witebsk geboren wurde, 1921 die französische Staatsbürgerschaft verliehen. Ebenfalls aus Witebsk – und zwischenzeitlich dorthin zurückkehrend – stammte Marc Chagall (1924 kehrte er mit seiner Frau nach Paris zurück). Sein Gemälde eines vor einem Offizier salutierenden Gefreiten ist nur eines von vielen Chagall-Werken in der Schau.
Endzeitstimmung und Insektenkanonen
Nach Kriegsende entwickeln die Kunstschaffenden der Pariser Diaspora eine noch wildere Mischung aus diversen Inspirationsquellen. Die Künstlerin Lou Albert-Lasard, die zeitweilig mit Rainer Maria Rilke liiert war, zeichnet das Nachtleben der 1920er. Flirrend-bewegt sind ihre Tänzerinnen und Nachtschwärmer auf einer Lithografie-Serie, die auf Albert-Lasards eigene Erlebnisse am Montmarte zurückgehen.
Im letzten Raum der Schau – "1940" – herrscht Endzeitstimmung; zu den Exponaten zählt die "Heuschrecke" von Chana Orloff, die 1968 80-jährig in Tel Aviv starb. In Anspielung auf die den Ägyptern von Gott gesandte Insektenplage schuf die Bildhauerin eine Bronze-Heuschrecke in Form einer Kanone, 1939, als Nazideutschland Polen überfallen hatte.
Die "École de Paris" fand ihr Ende nicht nur dadurch, dass viele der jüdischen Kunstschaffenden ermordet wurden, untertauchen mussten oder ins Exil gingen. Am Ende der fesselnden "Paris magnétique"-Schau erinnern Teile des Archivs des Pariser Fotografen Marc Vaux an das verlorene Kulturgut – der zerstörten, geplünderten, beschlagnahmten, verschollenen Kunstwerke.