Prix Marcel Duchamp für Éric Baudelaire

"In Paris küssen sich alle auf die Wange! Schrecklich!"

Éric Baudelaire hat Frankreichs wichtigsten Kunstpreis gewonnen – mit einem sehr besonderen Filmprojekt über Jugendliche in den Vorstädten

"Was drehen wir hier eigentlich für einen Film?" Der Junge, der das fragt, ist noch keine 12, und seine Frage hat eine gewisse Dringlichkeit. Die anderen Kinder im Raum denken angestrengt nach. "Eine Komödie? Ein Drama? Einen Dokumentarfilm?" Am Ende haben sie offenbar eine Lösung gefunden: "Un Film Dramatique" heißt das Werk, mit dem der Franzose Éric Baudelaire gerade in Paris den renommierten Prix Marcel Duchamp gewonnen hat. Warum ein Drama? Weil irgendwann der Ton weg war beim Filmen. Vielleicht hatte ihn jemand geklaut. Wenn das kein Drama ist!

Baudelaire, 1972 in den USA geboren, bewegt sich in seiner Arbeit zwischen Konzeptkunst und Film, er stellt in Galerien aus (wie Barbara Wien in Berlin), seine Filme laufen aber auch auf Festivals, "Un Film Dramatique" beispielsweise war auch in Locarno zu sehen. Vier Jahre lang hat Baudelaire für diesen Film mit rund 20 Kindern in einer Schule in Saint-Denis in der Pariser Banlieue gearbeitet. Die Kinder sollten nicht Thema, sondern Subjekte des Films sein: Sie filmten über Jahre immer selbst in ihrem Alltag und bei ihren Treffen, wuchsen mit dem Projekt und das Projekt mit ihnen.

Woanders gibt es auch Gewalt

Die Zuschauerin erfährt dabei viel über das Selbstverständnis dieser Kinder: Beispielsweise wenn zwei schwarze Mädchen souverän erklären, welche Vorurteile Leute gegenüber den "schlechten Wohnvierteln" haben, dabei seien sie genauso intelligent wie andere, und anderswo gäbe es auch Gewalt und Probleme. Ihre weiße Freundin ergänzt kichernd, sie könne niemals in Paris zur Schule gehen: "Da muss man sich immer so schick anziehen, die Schule ist viel strenger, und alle küssen sich auf die Wange wenn sie sich begrüßen, schrecklich!"

Noch überraschender ist, wie selbstverständlich die Kinder nebenbei ihr Medium reflektieren: Sie philosophieren darüber, was ein Film kann, was fiktiv ist und was real, und wozu man Erzählungen wohl gebrauchen kann. Und so wird dieses Werk, mit von Kindern selbst gedrehten Handybildern, zu einer filmästhetischen Abhandlung. Gleichzeitig ist es ein einfühlsamer Dokumentarfilm, der jede paternalistische Perspektive erfolgreich vermeidet. Oder eben ein Drama – wenn die Kinder es so wollen.