Film von Paul B. Preciado

Die Orlandos sind überall

Der Autor und Documenta-14-Kurator Paul Preciado wollte keine Biografie schreiben - weil Virginia Woolf das schon für ihn erledigt hat. Also hat er einen Film-Essay über Queerness geschaffen. "Orlando" ist ein vielstimmiges Manifest für die Metamorphose

Auf dem Plakat an der Hauswand steht: "Orlando, wo bist du?" Eine exzentrische literarische Suchanzeige? Es ist der spanische Queer-Theoretiker, Documenta-14-Kurator und Transgender-Aktivist Paul B. Preciado, dem man nachts dabei zusieht, wie er weitere Plakate klebt und davon erzählt, warum er lieber einen Film gedreht hat als eine klassische Biografie zu schreiben. "Weil die verfluchte Virginia Woolf meine Biografie schrieb, bereits 1928", stellt er lapidar fest.

Zur Erinnerung: Woolfs Roman begleitet einen jungen Adligen durch mehrere Epochen, bis er sich auf magische Weise im Schlaf in eine Frau verwandelt und wie selbstverständlich die Rollenspiele des neuen Geschlechts beherrscht. 1992 verfilmte Sally Potter diese Kampfansage an eine Mann-Frau-Dialektik mit Tilda Swinton in der Hauptrolle, eine ideale Besetzung, ist doch die adlige Schottin bis heute die ultimative Verkörperung einer androgynen Arthouse-Kino-Queen, die selbst in Blockbustern ihren besonderen Charme zu platzieren weiß.

30 Jahre später ist Woolfs zu Metamorphosen neigende Figur, die Herrschaft und Gewalt hinter sich gelassen hat, aktueller denn je. Der 53-jährige Regisseur von "Orlando, meine politische Biografie", ist nicht nur selbst trans. Er steht mit Büchern wie dem "Kontrasexuellen Manifest" oder "Testo Junkie", einer biografisch gefärbten Analyse über die Einnahme von Testosteron, an der Spitze des Diskurses. 

Filmischer Brief an Virginia Woolf

Es will schon etwas heißen, dass er seine erste Filmarbeit als eine Art "filmischen Brief" an die Schriftstellerin versteht, die sich 1941 unter dem Eindruck der deutschen Luftangriffe umgebracht hatte. Er, Preciado, ist ein Orlando. Und es gibt viele von ihnen. 27 sind es in dem Film. Sie schlafen im Grünen, blicken in die Kamera oder improvisieren lustige Spielszenen.

Das Konzept der Polyphonie durchzieht allgegenwärtig die losen Handlungsstränge. Neben Preciados aus dem Off vorgetragenen Gedanken sieht man queere Menschen zwischen 8 und 70 Jahren eine weiße Halskrause à la Orlando tragen.

Sie zitieren Woolf und erzählen von den ersten Gefühlen, im falschen Körper zu sein, den Ärzten und Psychiatern mit ihren demütigenden Ratschlägen, bis hin zur ersten Hormoneinnahme oder Operation. Eine Station im Wartezimmer einer Arztpraxis gerät dabei zum wilden Musikvideo, wenn die Orlandos zu tanzen und singen beginnen und dabei ihren Widerstand gegen Freud und Lacan als "Pharmacoliberation" feiern. 

Austragungsort eines kollektiven Anliegens

Er sei ein Dissident, sagt Preciado selbst, weil er die binäre Geschlechterordnung ablehne. Die hybride Form ist deshalb bewusst gewählt. Alles ist im Fluss, die autobiografische Erzählung geht mal in ein Manifest über, mal verwandelt sich der Interviewfilm in burleskes Theater. Die Tonspur wird dabei zum Austragungsort eines kollektiven Anliegens, wenn Textzeilen von mehreren Personen gesprochen werden, übereinander geschichtet als Chor von Stimmen, die gehört werden möchten.

Tauchten in Sally Potters Verfilmung am Rande prominente Mitkämpfer wie Jimmy Somerville auf, lässt Preciado das Künstlerpaar Pierre und Gilles auftreten, oder die in Berlin lebende Videokünstlerin Liz Rosenfeld als de Sade. In der Zukunft des Jahres 2028 tagt 100 Jahre nach dem Original-"Orlando" schließlich das Gericht. Die französische Bestsellerautorin Virginie Despentes, Ex-Freundin von Preciado vor dessen Transition, schlüpft in die Rolle einer Richterin, die "planetarische, nichtbinäre Staatsbürgerschaften" verteilt. Nach all dem experimentellen Stimmengewirr lässt sich das Finale als ermächtigende Utopie lesen, reich an Einfällen, wozu schon mal gehören kann, dass Woolfs Buch auf einem OP-Tisch mit dem Skalpell seziert wird, um den Satz "Gewalt war überall" aus dem Text zu entfernen.

Der Wunsch nach einer "Orlandisation" lässt sich aus den vielen Körpern, denen man in dieser Wiederaufnahme eines Literatur-Klassikern begegnet, jedenfalls nicht auslöschen. Sie strahlen in der kunstvoll ausgeleuchteten Studiokulisse und man darf gespannt sein, wie diese Apotheose des Dazwischen selbst fort- und umgeschrieben wird.