Vor dem Kino dachte ich, über diesen Film sei alles gesagt, wenn auch nicht von jedem. Über die Persönlichkeit des Quantenphysikers J. Robert Oppenheimer, den "Vater" der ersten US-amerikanischen Atombombe, die im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki so unfassbar viele Opfer forderte, aber auch den Krieg beendete. Über die Treibjagd von Senator McCarthy auf Linke nach dem Krieg, die wahllos unter Kommunistenverdacht standen, was als vaterländischer Verrat galt - erst recht wenn es linke Juden, Wissenschaftler oder Künstlerinnen waren.
Und es wurde bestimmt auch schon darüber gerichtet, ob Autor und Regisseur Christopher Nolan diesen Fragen mit seiner komplexen bis komplizierten Filmkunst angemessen begegnen könne. Oder ob die Biografie des staatlichen Bombenbauers hier nicht doch in erster Linie emotionalisiere.
Die größte und so gut wie einzige übriggebliebene Frage scheint am Ende eines weltweiten Rekordsommers aber zu sein, was "Oppenheimer" mit "Barbie" verbinde. Obwohl alle selbstverständlich wissen, dass absolut nichts sie verbindet außer ihrem Erfolg. Doch genau diese diversion, diese Ablenkung oder Umleitung, führt zu einem Kern von "Oppenheimer". Denn der Blockbuster verhandelt, was wir sehen, was wir nicht sehen oder nicht sehen wollen. Das führt der Film auf mehreren Ebenen vor, in der Geschichte selbst wie mit seiner Ästhetik.
Wie kann ein Mann, der so viel sah, so blind werden?
Sprachlich erscheint das Leitmotiv überklar. Schon lange habe ich im Kino nicht mehr so viele Metaphern über das Sehen gehört. Als wäre es ein Stück von Shakespeare, der in seinen größten Dramen wie "King Lear" und "Macbeth" so oft über Sehen, Nicht-Sehen, über Täuschungen, Erscheinungen und damit über die Wahrheit spricht. Dazu passen natürlich die hellen blauen Augen des Schauspielers Cilian Murphy, die mal weit blicken, mal fast milchig schimmern.
Nolans Drehbuch lässt sowohl Freunde wie spätere Feinde Oppenheimers früh gewichtige Sätze sagen, die vom Verstehen handeln, wenn sie vom Sehen reden. "Wie kann ein Mann, der so viel sah, so blind werden?", sagt der allmähliche Gegenspieler Lewis Strauss (Robert Downey Jr.). Ein anderer sagt Oppenheimer ins Gesicht: "You see beyond the world we live in" – Du siehst hinter die Welt, in der wir leben.
Das ist zum einen wissenschaftlich gemeint, weil die Quantenphysik, die der New Yorker aus seinen Studien in Europa in die USA brachte, sich mit den nicht sichtbaren Kräften beschäftigt, die Materie zusammenhalten und auseinandertreiben. Wenn "Oppie" seiner späteren Frau bei einer Party die Hand hält und sagt, eigentlich bestünden ihre Körper aus Leere, die sich gegenseitig durchdringt, taugt Physik sogar zum Flirt. Aber der stärkste Subtext der Seh-Metapher ist ein ethischer: Oppenheimer sieht früh die möglichen Konsequenzen seiner Forschung. Und sieht in der Folge dennoch weg.
Die Rezeption spiegelt die Kunst gespenstisch
Und das ist ja auch unser Problem, wenn wir im Mittelmeer liegen, das unglaubliche 30 Grad warm ist, und uns über den Marketingcoup des Jahren unterhalten, der zwei Filme immer im gleichen Satz nennt, die nichts miteinander zu tun haben, außer dass sie beide weltweit, nun ja, einschlagen. Das Phänomen "Barbenheimer" führt das gleiche Wegsehen auf wie Oppenheimer in diesem Film. Die Rezeption spiegelt die Kunst gespenstisch: Wir sehen weg, reden aber umso mehr. Auch diese Wende vollzieht der Film: vom Bild zum Ton, vom zusammenhängenden Verständnis hin zum überwältigenden Lärm von Musik und Sprache.
Die Tragik des Wegsehens, die unsere Kinder uns wohl nie verzeihen werden, spiegelt der Film immer deutlicher. Die Kontrastfolie dazu liefert der Film früh mit der Bildenden Kunst. Die Physik, die den überklugen Studenten Oppenheimer fast in den Wahnsinn treibt, ist eine Kunst der Abstraktion. Regisseur Nolan probiert verschiedene Visualisierungen aus, was Teilchen, Wellen und ihre Kräfte anstellen. Alles wirkt bedrohlich auf Oppenheimer, er wälzt sich im Bett, am Schreibtisch verzweifelt er. Wo er den Blick halten kann: beim Anblick von Bildender Kunst. Er sieht Picasso. Er sieht nicht-realistische Kunst, Modelle, Metaphern, Symbole.
Als Mathematiker schreckt ihn Abstraktion nicht, er kann in ihr eine Wahrheit sehen und sie so auch aushalten. Aber dann macht der Film eine Kehrtwende. Ein Lehrer erklärt ihm, Mathematik sei wie notierte Musik. Nur lesen reiche nicht. Man müsse die Musik darin hören. "Können Sie die Musik in der Algebra hören, Oppenheimer?" "Yes, I can." Von da an entzieht der Film dem Publikum immer wieder die Bilder des Schreckens. "Oppenheimer" wird zu einem Film, der akustisch überwältigt, alles über Sprache löst und sich im letzten Drittel als Kammerspiel in engen Räumen inszeniert.
Hyperpräsent und abwesend zugleich
Es ist nicht neu, dass Hollywood die Soundtracks bis zum Anschlag dreht und unseren Ohren wenige Pausen gönnt. Der Horror vor der Leere: jede Pause birgt die Gefahr, einen verstörenden Gedanken zu haben. Aber der Score von Ludwig Göransson treibt sie bewusst auf die Spitze. Seine Streicher schwellen regelmäßig ohrenbetäubend an. Sie wirken wie eine Vorwegnahme der Detonation der ersten Bombe, die später als tatsächlicher Bombenklang weiter durch den Film geistert. Über die Ohren sind wir empfänglicher für immersive Erfahrungen als über Bilder auf einer flachen Leinwand.
Perfide: Der Sound, der sowohl die Hauptfigur wie das Publikum vom eigentlichen Problem ablenken soll, stammt vom eigentlichen Problem: der Bombe. Sie ist hyperpräsent und abwesend zugleich. Geht es uns in diesem Sommer anders, sei es mit dem Klimawandel oder mit der erneuten atomaren Bedrohung, die popkulturell als pinker Atompilz diskutiert wird?
Die steile Klangwand bleibt bis zur späten Klimax bestehen. Und setzt dann plötzlich aus: Als der erste Bombentest in der Wüste von New Mexico detoniert, ist die Musik schlagartig weg. Lauteste Stille ever. Der Film zeigt die geblendeten Gesichter der Wissenschaftler, der Ton fokussiert nur auf ihre Atmung, das Empfinden wird ganz innerlich. Ausgerechnet jetzt.
Exzessive Verweigerung des Bildes
Auch der Bildausschnitt nimmt sich Zeit, bis er den ganzen Atompilz zeigt, und dann jeweils nur kurz. Wir sehen Nahaufnahmen des Feuersturms, die auch von der Sonne sein könnte (wie schon in der Eröffnungssequenz des Filmes). Bei einer Versammlung jener Physiker, die Skrupel entwickeln und vor dem atomaren Wettrüsten warnen, werden den Teilnehmern Bilder des Todes aus Hiroshima und Nagasaki gezeigt. Aber nur ihnen. Wir sehen kein einziges davon, sondern nur den Schrecken in den Gesichtern. Der zweifache Abwurf über Japan im August 1945 kommt in keinem einzigen Bild vor. Wir hören die Radioansprache des US-Präsidenten, dann ein Telefonat.
Manche hat gestört, dass der Film "keine Japaner" zeige, und das Bild des Abwurfs verweigere. Das ist kein Mangel, sondern der kritische Move von "Oppenheimer": Er verweigert offensiv das Bild und badet exzessiv im Ton, Geräusch, und im Text. Gerade, um damit die Blindheit zu thematisieren.
Das letzte Drittel konzentriert sich auf das monatelange Verhör der Atomenergiekommission 1954, die Oppenheimer den Zugang zu geheimen Dokumenten untersagen und somit seine Karriere in Staatsdiensten beenden will (was ihr gelingt). Aus diesen Protokollen montierte und dichtete Heinar Kipphardt 1964 ein enorm erfolgreiches, heute dröge zu lesendes Fernsehspiel und dann das Dokumentartheaterstück seiner Zeit: "In der Sache J. Robert Oppenheimer".
Damit wir sehen
Parallel dazu montiert Christopher Nolan eine Senatsanhörung des ehemaligen Freundes und Intriganten Strauss, der überraschend scheitert. Es gab Abweichler im Senat, die dafür sorgten. Mit dabei: Ein unbekannter junger Senator namens John F. Kennedy. Er sollte bald als erster Superpolitiker lernen, wie mächtig Bilder sind. Wir sind da aber ganz im Modus des Hörens.
Nolan wendet einen alten protestantischen Trick an: Er spricht immer wieder Bilderverbote aus, und regt genau damit unsere Vorstellung an. Damit wir sehen.