Kinofilm "Abendland" von Omer Fast

Die etwas anderen Merkel-Memoiren

Angela Merkel ist durch ihr neues Buch gerade wieder omnipräsent. Auch im Film "Abendland" von Künstler Omer Fast spielt die Altkanzlerin die Hauptrolle - und geistert als maskiertes Wesen durch eine verspielte Gesellschaftsparabel

Angela rennt. Vermummte Polizisten sind hinter ihr her. Die Gestalt, die zu Beginn von Omer Fasts drittem Spielfilm "Abendland" quer durch den Wald flüchtet, ist nicht Angela Merkel. Sie ist eine jüngere Frau, die sich wie andere Aktivistinnen und Aktivisten gegen die Rodung eines Waldgebietes stemmt – Hambacher Forst, ick hör' dir knarren. Aber nicht nur ihre Merkel-Gesichtsmaske rückt sie in die Nähe der Altkanzlerin, deren Autobiografie (es wird Zufall sein) sich zurzeit druckfrisch in den Läden stapelt und den Blätterwald von "FAZ" bis "Süddeutscher Zeitung" rauschen lässt.

Mehr noch, "Merkel" (den richtigen Namen der von Stephanie Amarell gespielten Figur erfahren wir nicht) murmelt Sätze aus dem Zitatenschatz aus den 16 Regierungsjahren der Politikerin. Gleich am Anfang hört man deren Solidaritätsappell in der Corona-Krise: "Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichem Leben und vom sozialen Miteinander – all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor". Und vielleicht verweist auch das verhaltene, abwartende und unaggressive Verhalten der dauermaskierten Hauptfigur in "Abendland" auf die ruhige, (oft zu) besonnene Art der Kanzlerin. 

Omer Fast, der auch das Drehbuch schrieb, zwingt sein Publikum jedenfalls dazu, ständig an Angela Merkel zu denken, zumal später noch ein zweites Kanzlerinnen-Double auftaucht. "Ich glaub', ich steh' im Wald" dürften einige im Kinopublikum sich gegenseitig zuflüstern, während der Interpretationsapparat in den Köpfen heiß läuft wie eine überbeanspruchte Motorsäge.

Nur für wenige Tage man selbst sein

Ja, "Abendland" ist eine sperrige Geschichte. Andererseits überrascht der 1972 in Jerusalem geborene und seit 2023 an der Hamburger Hochschule für bildende Künste lehrende Videokünstler, der schon "Remainder" (2015) und "Continuity" (2016) fürs Kino drehte, mit für ihn ungewöhnlich geradliniger Narration. Doch immer, wenn man sich schon fast im Genrekino wähnt, kommt es anders.

Auf der Flucht vor der Polizei rutscht Merkel eine Felsenklippe hinunter und zieht sich eine Beinverletzung zu. Sie humpelt durch die Waldschlucht und stößt in einer Höhle auf ebenso maskierte Waldbewohner – einen Jungen mit Disney-Aladdin-Maske, einen Mann, der an Gollum aus "Herr der Ringe" erinnert. Bald wird klar, dass Merkel weniger in einer Fantasy- als in einer Parallelwelt gelandet ist, die an die deutsche Gegenwart angelehnt ist. Bald trifft sie auf in Baumhäusern lebende Kommunarden, die sich von der Normalgesellschaft separiert haben und eine Utopie leben: ein Mikrokosmos, der von Autarkie, anti-hierarchischen Strukturen und dem Verzicht auf festgelegte Identitäten geprägt ist.

Deshalb haben sich alle Masken vors Gesicht geschnallt. In einem zyklischen Ritual tauscht "Guy Fawkes" seine Identität mit dem "Alien". Und auch Amsel, Hase, Bär und Hobbit folgen der Regel, nur für wenige Tage "sie selbst" zu sein.

Keine Spur von Integration

Ausgerechnet Merkel wird in dieser Parallelwaldwelt zur Migrantin, die skeptisch von der Gemeinschaft beäugt wird, womöglich für die Polizei oder die Medien herumspioniert. Sogar die ebenfalls mit Angie-Maske ausgestattete Doppelgängerin begegnet der Protagonistin mit Misstrauen. Die fremde Merkel wird erstmal in Baumhaus-Quarantäne geschickt. Offenbar kennt sie sich mit Elektrik und Generatoren aus, kann also doch brauchbar sein und darf daher mit den Kommunardinnen in einer Runde sitzen. Doch von Integration in die Waldgesellschaft bleibt sie weit entfernt.

Merkel teilt das Schicksal verschiedener unbehauster Kafka-Figuren, die auf Akzeptanz hoffen und endlose Wälder der Scham durchstreifen. Zu den literarischen Vorbildern von "Abendland" zählt nicht zuletzt Daniel Defoes "Robinson Crusoe", wobei Omer Fast erklärt hat, dass er ursprünglich J. G. Ballards moderne Robinsonade "Die Betoninsel" ("Concrete Island") adaptieren wollte. In dem Roman strandet die Hauptfigur, ein Londoner Architekt, auf einer riesigen Verkehrsinsel und trifft in diesem von der Metropole abgeschnittene Areal auf verschiedene "Insulaner". Ballards Erzählung, so Fast, habe sich aber nicht adäquat verfilmen lassen.

Nun also das Maskenspiel und die Waldeinsamkeit. Die erste Einstellung des Films ist vielversprechend: Merkel steht als Rückenfigur – C.D. Friedrich lässt grüßen – vor einem Baumriesen, der sich auf magische Weise wieder aufrichtet (die Rückwärtsaufnahme einer Motorsägen-Aktion). Das kann man als Regression lesen, als Wunsch, die Uhr möge zurückgedreht werden, oder als Utopie einer Heilbarkeit ökologischer Katastrophen. 

Zwischen diesen Polen scheint sich die Handlung von "Abendland" zu bewegen, wie ja auch der hier stets mitgedachte deutsche Wald der Romantik sowohl reaktionäre als auch, als Wiege der Umweltbewegung, fortschrittliche Züge aufweist. Am Ende bleiben viele Fragezeichen. Auch, was den Titel angeht, der womöglich auf Oswald Spenglers kulturphilosophische und -pessimistische Abhandlung vom "Untergang des Abendlandes" anspielt. Zumindest in dem Punkt hätte Omer Fast sich doch etwas verhoben. Es lohnt sich dennoch, sich mit seiner interessanten, wohl leicht verpeilten, auf jeden Fall verspielten Gesellschaftsparabel auseinanderzusetzen.