Lucy Chinen, Sean Raspet, Sie bringen ein Produkt auf den Markt, aber Sie kommen eigentlich aus der Kunstwelt, einem Bereich, wo sonst nicht massenhaft Konsumgüter produziert werden. Was bringt das für Vorteile?
Lucy Chinen: Wir waren in einem Programm für junge Unternehmer in New York, das Ernährungs-Start-Ups fördert. Die größte Frage war: Für wen ist das Produkt? Von einem Kunst-Standpunkt denkt man eher: Dieses Produkt sollte es einfach geben.
Sean Raspet: Würden wir aus der Lebensmittelindustrie kommen, hätten wir die Firma gar nicht gegründet. Das ist zu riskant und ungewöhnlich. Ein Nachteil ist aber, dass viele Leute denken, Nonfood wäre ein Kunstwerk, und das Produkt wäre nicht real. In der Kunstwelt hat man die Tendenz, Dinge nicht für echt zu halten.
Haben Sie sich auch schon vor der Gründung von Nonfood 2015 für Alternativen zur konventionellen Lebensmittelproduktion interessiert?
SR: Ich habe zwar einen Kunsthintergrund, aber ich kenne die Probleme der Lebensmittelindustrie. Für eine US-Firma habe ich als Lebensmittelchemiker und Produktentwickler gearbeitet.
LC: Ich habe zur Ernährung publiziert und geforscht. Betrachtet man die Debatte um das Essen der Zukunft, geht es viel um Proteine aus Heuschrecken, solche Dinge.
Algen wachsen schnell, produzieren Sauerstoff, sind nahrhaft und gut für das Klima. Warum ist das nicht schon längst ein Massenprodukt?
LC: Das hat kulturelle Gründe. Die Kultivierung von Algen im Westen fing in den 1970ern an, wurde in den 2000ern als Biomasse für Treibstoff weiterentwickelt und wird jetzt als Nahrungsergänzungsmittel verkauft. Aber sie gehören nicht zu unserem Geschmacksspektrum. Vor allem nicht in den großen Mengen, die man braucht um das nötige Eiweiß zu bekommen.
SR: Es gibt schon Regionen, zum Beispiel am Tschadsee in Afrika und in Mexiko, wo Algen zur traditionellen Ernährung gehören. Aber in den USA sieht man das noch nicht als Nahrungsmittel. Uns geht es darum, etwas das früher als nicht-Essen galt, in den Bereich des Essbaren zu überführen: mehr Optionen statt weniger. Daher auch der Name Nonfood.
Woher kommen Ihre Algen dann?
SR: Aus den USA und aus Korea. Zuvor wurden Algen als Bio-Treibstoff hergestellt, aber das setzte sich nicht durch. Denn Fracking wurde entwickelt, und man hatte wieder billigen fossilen Brennstoff. Es gibt also noch nicht so eine Infrastruktur für die Massenproduktion.
Wollen Sie denn ihre Produktion erhöhen?
SR: Ja. Wir waren mal bei einer Konferenz und haben einen Produzenten von algenbasiertem Protein getroffen. Der fragte, wie viel wir bestellen wollen. Ich sagte, wahrscheinlich so ungefähr eine Tonne im Jahr. Und er lachte: So werdet ihr die Welt nicht retten! So etwas ist nur effektiv, wenn es genutzt wird, nicht als Kunstprojekt.
Wie soll das gelingen?
LC: Unser neuestes Produkt ist eine schmackhaftere Algenart. Getrocknet.
SR: Man kann sie als Zutat benutzen. Die Nonbar ist ein Fertigprodukt, das kann man direkt aus der Packung essen. Die Nongredient ist pures Algenpulver. Damit haben wir einige der Probleme im Geschmack gelöst, und es schmeckt auch besser als die meisten Algen im Handel. Es ist einigermaßen neutral, fast herzhaft.
Mal angenommen, Ihr Produkt schafft es auf den Massenmarkt. Wenn ich in zehn Jahren meine Freunde zum Abendessen einlade, wie stellen Sie sich das vor?
LC: Wenn Sie etwas zu Hause kochen, dann würden Sie Nongredient benutzen oder ein vergleichbares Produkt. Es wäre ja albern, sich vorzustellen, jeder würde einfach eine Nonbar essen.
Wie schmeckt das dann?
SR: Ich habe mit Nongredient mal ein Curry gekocht. Das schmeckt umami, und es ist reich an Eiweiß.
Der Begriff umami kommt aus dem Japanischen und hat in der letzten Zeit eine enorme Karriere gemacht. Aber was bedeutet das?
LC: Misosuppe ist umami, Knochenbrühe zum Beispiel auch. Sean, es gibt doch bestimmte Geschmacksnerven für umami?
SR: Ja, es gibt süß, sauer, salzig. Bitteres spricht ungefähr 30 verschiedene Geschmacksnerven an, und dann gibt es noch umami.
Sie vermarkten das nicht als explizit ökologisch. Was halten Sie von der Trennung in Bio-Landwirtschaft und Monokulturen?
SR: Konventionelle Landwirtschaft wird mit Monokulturen assoziiert, aber Bio-Landwirtschaft kann auch so verfahren. Ich würde sagen, das ist – zumindest in den USA – oft kein Unterschied. Die können sogar die gleichen Pestizide und Dünger benutzen.
LC: Die meisten Lebensmittelkonzerne wissen, dass die Labels willkürlich sind, aber halten an diesen Mythen fest, weil sie wissen, dass sie bei den Kunden funktionieren.
SR: Was Lucy sagt, erinnert mich an eine andere Unterscheidung: künstliche und natürliche Aromen. Bei den natürlichen kann ein ganzes Feld Blumen gepresst werden, nur um einen Tropfen Öl herzustellen. Ökologisch sehr ineffizient. Und das produziert viel mehr Emissionen, als wenn man es künstlich herstellen würde.
Gibt es einen substantiellen Unterschied oder ist das auf molekularer Ebene das Gleiche?
SR: Als Lebensmittelchemiker setzt man meistens Moleküle zusammen – entweder künstliche oder natürliche. Aber auf der kleinsten Ebene ist das gleich, der Unterschied besteht im Prozess.
Die Nonbars schmecken aber nicht nur nach Algen, oder?
SR: Wir fügen ein Aroma hinzu. Aber wir wollen den Algengeschmack auch nicht überdecken, sondern einbinden.
Wie wird sich die Lebensmittelindustrie nach der Pandemie verändern? In Deutschland stand zuletzt vor allem die Fleischindustrie in der Kritik.
LC: Würde man Social Distancing in Fleischfabriken praktizieren, sinkt die Produktivität.
Wäre das denn ein Problem?
LC: Naja, US-Präsident Trump hat sehr aggressiv auf den Vorschlag reagiert, Fleischfabriken zu schließen. Und das US-Landwirtschaftsministerium schaltet schon seit Jahrzehnten Werbespots: "Beef. It’s what’s for dinner." Das ist sehr patriotisch besetzt.
LC: Für die Menschen ist eine vegetarische Ernährung leicht zu verstehen, wenn es um die eigene Gesundheit geht. Dann kommt die Klimafrage, und das ist abstrakter, nicht so unmittelbar. Was jetzt in den Blick rückt, ist die Frage nach den Arbeitsbedingungen. Aber Fleischverzehr ist so tief in der amerikanischen Kultur verankert.
SR: Fleisch wird auch von der Regierung gefördert. Außerdem wird den Arbeitenden wenig bezahlt. Es ist dadurch viel billiger als andere Produkte.
Ist ein Fertigprodukt aus Algen nicht eine befremdliche Alternative?
LC: Naja, ich würde sagen, dass die Entfremdung eher daher kommt, wie in den USA neue Lebensmittel beworben werden. Das wirkt nämlich oft sehr steril, und das bedient diese Silicon-Valley-Ästhetik: Astronautennahrung für Libertäre. Das ist entfremdend für alle, die auch noch andere Aspekte beim Essen genießen.
Und Algen sind da anders?
SR: Unter den Algen gibt es Vielfalt. Im Moment sind fünf Sorten von der US-Lebensmittelbehörde freigegeben. Zuletzt C. Reinhardtii, die schmeckt ein bisschen wie Petersilie. Chlorella ist ein bisschen nussiger, ein bisschen umami, je nach dem wo sie wächst. Spirulina ist interessant, denn die hat eine erdige Note, aber zugleich etwas von Beeren. Das fällt den meisten nicht auf, den sie konzentrieren sich auf die erdigen Noten. Aber dahinter stecken die gleichen Moleküle wie in Himbeeren. Man kann viel damit machen.
Es gibt viele Dystopien, in denen synthetisches oder hochkonzentriertes Essen eine Rolle spielen.
LC: Nahrung mit hochkonzentrierten Nährstoffen würde man nur essen, wenn es nichts anderes gibt. Das ist eine dystopische Vorstellung von Zwang und Mangel und hat nichts mehr mit Genuss zu tun.
SR: Wir haben uns auch auf Nongredient verlegt, weil uns auch Geschmacksvielfalt wichtig ist. Algen sind ein Geschmack für sich.
LC: Vor langer Zeit war unser Essen zäher und bitterer. Irgendwann wurde die Palette auf Nahrung reduziert, die leicht zu essen sind. Es wäre schön, wenn wir wieder zu vielfältigen Konsistenzen und Aromen zurückkehren.