Dass Kameras Bilder ausspucken, die - was immer das heißt - realistischer wären als Gemälde oder Plastiken, glaubt heute fast keiner mehr. Fotos sind höchstens Wirklichkeitssplitter; oft erregen sie den Verdacht, dass das Eigentliche, Wichtige außerhalb des Rahmens liegt. Auch sieht sich neben der textliefernden "Lügenpresse" auch der Bildjournalismus heute dem Vorwurf ausgesetzt, Fake News in Serie zu produzieren. Konsequenterweise beschäftigt sich die Ausstellung "Evoking Reality" bei Daimler Contemporary nicht mit der abgründigen Frage, wie denn Wirklichkeit wiederzugeben sei, sondern wie man sie herstellt.
Die Gruppenschau mit Foto- und Videoarbeiten aus der Daimler-Sammlung – acht Künstlerinnen und acht Künstlern sind beteiligt, darunter Cao Fei, Tacita Dean, Pieter Hugo oder Viviane Sassen – findet wie immer im vierten Stock des Weinhauses Huth statt. Weil sich die Architekten vor über 100 Jahren für einen Bau mit Stahlskelett-Konstruktion entschieden, hat das Haus den Zweiten Weltkrieg überstanden. Es ist das einzige vollständige Relikt des alten Potsdamer Platzes. Es wird kein Zufall sein, dass Sammlungsleiterin Renate Wiehager und ihre Kokuratorin Isabelle Henrich ihren Parcours mit einem schwarzweißen Tableau von Maya Zack beginnen: "Living Room 4" ist die fotorealistische Rekonstruktion eines Berliner Bürgerzimmers nach den Erinnerungen eines Juden, der 1938 mit seiner Familie aus Deutschland fliehen musste.
Nicht am Computer, sondern im Fotostudio reinszenierte Oskar Schmidt historische Bilder von Walker Evans. Die Opfer der Großen Depression in den USA hat Schmidt in seiner "American Series" von 2011 aber durch Gebrauchsgegenstände wie Stühle, Eimer, Leitern ersetzt. Vielleicht ein Reflex auf Susan Sontag, die in einem ihrer Essays ihre Skepsis darüber zum Ausdruck brachte, wie Fotos uns voyeuristisch "Das Leiden anderer betrachten" lassen.
Als nach 9/11 die Fotos vom Ground Zero von vielen Betrachtern als "surreal" bezeichnet wurden, entgegnete Sontag, hinter diesem "eilfertigen Euphemismus" verberge sich eine "in Ungnade gefallene Idee der Schönheit". Tatsächlich wirken die Landschaftsaufnahmen aus dem Ostkongo von Richard Mosse schön – aufgrund des Infrarotfilms, den der irische Fotograf für die Serie "Infra" (2011) benutzte. Glamouröses Pink ersetzt die Grüntöne. Doch durch die Verfremdung treten die zerstörte Natur des Landes, die Ausbeutung und Misere der kongolesischen Bevölkerung nur umso deutlicher zutage.
Fast alle Werke der Schau, die von einer lesenswerten, aber nur bedingt leserfreundlichen Begleitbroschüre flankiert wird, bewegen sich im Spannungsfeld von Berichterstattung und Erfindung. Prototypisch für die Auswahl ist Guy Tillim. Der Südafrikaner begann als Pressefotograf und ist heute in der Kunstwelt erfolgreich. Tillim-Arbeiten wie die bei Daimler gezeigte Serie "Petros Village" (aus Malawi, 2006) sind zwar dokumentarisch geprägt, aber ihnen geht jeglicher Sensationalismus ab. Man könne immer "etwas Hässliches, Brutales in etwas Erhabenes und Erlösendes verwandeln", hat Tillim einmal gesagt.
Die ebenfalls aus Südafrika stammende Bildhauerin Jane Alexander hat in der Fotoserie "African Adventure" (2002) ihre Tierskulpturen in Street Photography aus dem Kapstadt der 90er – als die Apartheid noch herrschte – hineinmontiert. Soziale Realitäten – Prostitution, Drogenproblematik, Obdachlosigkeit – verbindet sich bruchlos mit inneren Bildern der Künstlerin.
Ohnehin entlarven Gegenwartskünstler den vorgeblichen Gegensatz von Inszenierung und Dokumentation zunehmend als künstlich. "Dokumentationen bauen immer auf einer organisierten Realität, auf einer fiktionalisierten Realität auf", sagt Clément Cogitore. Der französische, im Grenzbereich von Kino und Kunst tätige Filmemacher und Fotograf zeigt in seinem Video "Les Indes galantes" eine Aufführung der gleichnamigen Ballettoper von Jean-Philippe Rameau. Die jungen Pariser, die die barocke Partitur 2017 im Freestyle aufführen, filmen sich mit ihren Smartphones gegenseitig beim Tanzen. Das Video ist aus diesen multiplen Blicken montiert. Die dort praktizierte Tanzform K.R.U.M.P. entstand während der Los Angeles Riots 1992 – als Form des Protestes gegen rassistische Polizeigewalt. Die Geburt des Tanzes aus dem Geist gewaltlosen Widerstands: Cogitore zeigt in der Tat – wie Menschen Wirklichkeit herstellen.