Als das Getty Research Institute 2011 den Bieterstreit um das Archiv des berühmten und polarisierenden Ausstellungsmachers Harald Szeemann gewann, waren die Empörung und das Bedauern hierzulande groß. Das Land Hessen und die Stadt Kassel, wo Szeemann 1972 die legendäre und damals hoch umstrittene Documenta 5 ausgerichtet hatte, ging leer aus. Über tausend Kisten mit Dokumenten, Briefen, Skizzen und Materialien zu mehr als 20.000 Künstler sowie 26.000 Bücher, darunter etliche rare Künstlerbücher, wanderten aus der Fabricca Rosa, Szeemanns Arbeits-Refugium im Tessin, nach Los Angeles. Harald Szeemann (1933–2005) hatte zwar sein Leben lang mit etlichen amerikanischen Künstlern, aber nie in den USA gearbeitet. Eine bewusste und politisch motivierte Entscheidung.
Doch am Getty scheute man weder Kosten noch Mühen, um dieses einzigartige Archiv aufzubereiten und möglichst bald der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Allein die räumlichen Bedingungen – 750 Regalmeter belegt das Archiv – konnte Kassel zu dem Zeitpunkt nicht bieten. Ein festes Team von wissenschaftlichen Mitarbeitern und Restauratoren wartete am Getty nur darauf, mit der Aufarbeitung zu beginnen. Nach sieben Jahren ist ein Kondensat der Arbeit nun in Form von zwei parallel gezeigten Ausstellungen, "Museum der Obsessionen" und "Großvater: Ein Pionier wie wir 1974/2018" nach Stationen am Getty und der Kunsthalle Bern in der Kunsthalle Düsseldorf zu sehen. Nicht zufällig fiel die Wahl auf die Kunsthalle als dritte Station, Szeemann realisierte hier und im Kunstverein im gleichen Haus zwischen 1968 und 1992 acht Ausstellungen.
Doch wo fängt man an mit der Ausstellung über einen Ausstellungsmacher, der immer wieder mit den Konventionen brach und gleichzeitig den Weg für nachfolgende Generationen von Kuratoren ebnete? Wie fasst man so ein komplexes und obsessives Schaffen so zusammen, dass es auch für Nicht-Experten nachvollziehbar wird? Wie zeigt man ein historisches Archiv, ohne sich in didaktischen Wandtexten und kleinteiliger Vitrinenmaterialschlacht zu verlieren? Zunächst einmal mit einer guten Struktur. Die Ausstellung gliedert sich in drei thematische und weitestgehend chronologisch aufgebaute Sektionen: "Avantgarden" widmet sich den Ausstellungen der 60er- und 70er-Jahre, in denen Szeemann eng mit Zeitgenossen und Pionieren der Konzeptkunst, Fluxus-Bewegung und des Happening zusammenarbeitete.
Vergleichsweise knapp werden hier seine acht Jahre an der Kunsthalle Bern, die bahnbrechenden Ausstellungen "Live in Your Head. When Attitudes Become Form" (1969), "Happening & Fluxus", die Szeemann 1970 mit Wolf Vostell im Kölnischen Kunstverein organisierte, und die Documenta 5 (1972) vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt eher auf den Zwischentönen, angefangen bei der Rücktrittserklärung Szeemanns an seinen ersten Arbeitgeber, die Kunsthalle Bern, in deren Folge er den Beruf des freischaffenden Kurators schuf und seine "Agentur für geistige Gastarbeit" gründete, komplett mit Briefkopf, Stempelset und gebrandetem Klebeband. Ein Blatt von 1970 zeugt von dem Brainstorming, das zur Findung des Firmennamens führte, und als alternativen Namensvorschlag die "Agentur für temporäres Showbusiness" listet. Als hätte er schon vor fast 50 Jahren geahnt, zu welcher Event-Macherei die zeitgenössische Kunstszene einmal fähig sein würde.
Das Ausstellungskapitel endet mit der Documenta 5, einem Wendepunkt in Szeemanns Karriere, die ihm einerseits zu internationalem Ruhm und Ansehen verhalf und ihn gleichzeitig heftiger Kritik aussetzte – er sollte sogar persönlich für das Defizit von 800.000 D-Mark haftbar gemacht werden.
Hier schiebt sich die "Großvater"-Ausstellung dazwischen, im Nebensaal der Kunsthalle als in sich geschlossenes Projekt aufgebaut. Nach der Documenta hatte Szeemann keine anstehenden Aufträge oder konkreten Projekte und wandte sich stattdessen einem völlig eigenen Vorhaben zu: einer Ausstellung in seiner eigenen Wohnung über seinen Großvater Étienne Szeemann, der 1971 verstorben war.
Drei Monate verbrachte er damit, das Leben des Großvaters, einem ungarischen Einwanderer, Friseurmeister und Erfinder, zu "kuratieren": Er gruppierte die Gegenstände und Überbleibsel zu Themen und Gruppen, setzte Schwerpunkte durch die Art der Hängung (zum Beispiel wurden alle Bilder und Objekte aus der Wohnung mit religiösem Charakter zu einem Dreieck über dem Bett aufgehängt, um die Bedeutung des Glaubens für den Großvater zu symbolisieren) und ließ dabei immer wieder Rückschlüsse und Verweise auf seine sehr eigene Denk- und Sichtweise auf die Kunst zu.
Wenn in einem Regal zu einem Haufen aufgetürmte Seifenblöcke neben einer verpackten Flasche und einem scheinbar zweckfreien aber interessant geformtem Werkzeug platziert sind, ist der Weg zu Beuys, Christo und den Surrealisten nicht weit. Und die Dauerwellenmaschine, die Étienne Szeemann entwickelte, ein Holzstuhl, über dem fast bedrohlich die elektrischen Lockenwickler an einem Gestell in der Luft baumeln, ist mit Blick auf die "Jungesellenmaschinen" in Szeemanns darauffolgendem großen Ausstellungsprojekt auch ein Ausdruck künstlerischer Avantgarde.
In Bern wurde die "Großvater"-Ausstellung am Originalschauplatz, Szeemanns ehemaliger Wohnung reinszeniert, und alles stand auf den Millimeter genau am selben Platz wie einst. So auch in Düsseldorf, nachgebaut in maßgenauer Kulisse. Natürlich gab es Lücken und Fehlstellen, die im Archiv nicht mehr zu schließen waren, doch das Getty-Team entschied sich dafür, alles zu rekonstruieren oder nachzukaufen, statt sie kenntlich zu machen. Muss das sein? Ein Chihuahua aus dem 3D-Drucker, Kleider vom Flohmarkt und nachgemalte Holzmaserung statt etwas Vertrauen in die Fantasie der Besucher? Vielleicht zeigt sich hier der perfektionistische Anspruch des Getty und auch die Nähe zu Hollywood, wie einer der Beteiligten im Rahmen der Erst-Eröffnung in Los Angeles verlauten ließ. Die Botschaft und das Besondere an Szeemanns Arbeit wäre auch ohne die Rekonstruktionen rübergekommen.
Die "Großvater"-Ausstellung bildet die gedankliche Überleitung zu "Utopien und Visionäre", einer Trilogie von Ausstellungen, die Szeemann in den späten 70er- und den 80er-Jahren realisierte, als er sich mehr und mehr von der zeitgenössischen Kunst abwandte und sich zu einer "gesamtkunstwerklichen" Betrachtung der künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts widmete. Die Ausstellung kehrt hier an den Ort ihres Entstehens zurück, "Der Hang zum Gesamtkunstwerk" machte 1983 auch in der Kunsthalle Düsseldorf Station. Hier schlägt sich sein Interesse für alternative Lebensformen, Anarchismus, Utopien und deren künstlerische Entwürfe, wie er sie im Tessin auf dem Monte Verità wiederfand, für Surrealismus und Dada, Art Brut und die gleichwertige Betrachtung aller künstlerischer Sparten nieder. Und aus dieser Phase entstammt auch der Begriff des "Museum der Obsessionen", das Szeemann Mitte der 70er Jahre, in der Folge seiner persönlichen Bilanz des Documenta-Trubels zu seiner Lebensaufgabe machte, als imaginären Raum und Ideenspeicher, in dem er neue Zusammenhänge, Gedanken und Richtungen erproben konnte.
Es ist unmöglich, die Komplexität der Themen, der zeitlichen und gesellschaftlichen Parallelerscheinungen in diesem Kapitel der Ausstellung allein über die ausgestellten Materialien und Werke zu erfassen. Wer hier ganz in den Kosmos Szeemann einsteigen will, kommt um einen Blick in den umfangreichen Katalog nicht umhin. Und doch wird auch hier immer wieder deutlich, wie gegenwärtig einzelne Themen, mit denen Szeemann sich kontinuierlich beschäftigte, nach wie vor sind. Wenn er 1975 zurückblickt auf das Spannungsverhältnis von biologischem Körper und industriellen Maschinen zwischen 1875 und 1925 ist der Sprung zu Künstlicher Intelligenz und Post-Humanismus nicht weit.
Der dritte und kleinste Bereich der Ausstellung, "Geografien", wird etwas abseits im Durchgangsbereich des Treppenhauses gezeigt und stellt Szeemanns Schulhefte aus dem Geografie-Unterricht mit schönster Sonntagsschrift und höchst kreativen Zeichnungen und typografischen Illustrationen neben Reisepässe und allerlei Ausstellungs-Ephemera von internationalen Projekten, die er kuratierte. Szeemann, der mitunter an 300 Tagen im Jahr im Flugzeug saß, war auch in puncto Reisen obsessiv, wie die über mannshohe "Skulptur" aus Flugzeug-Gepäcketiketten zeigt, ein Alptraum für Restauratoren.
"Immer mehr neigen Ausstellungen dazu, nicht mehr Ausstellungen von Kunstwerken zu sein, sondern sich selbst als Kunstwerk auszustellen", schrieb Daniel Buren 1972 als Kritik auf die Szeemannsche Documenta, die er als Selbstverwirklichung des Kurators empfand (der gesamte Text liegt ebenfalls in der Ausstellung aus). Was hätte Szeemann wohl dazu gesagt, sein Lebenswerk so akkurat und penibel angeordnet in Vitrinen ausgestellt zu sehen, auf Sockeln und mit erklärenden Labels, also genau das Gegenteil von dem, womit er noch bei "Attitudes" für Furore sorgte, als alle Werke direkt auf dem Boden und auf beziehungsweise in der Wand präsentiert wurden? Die eigenen Ausstellungen als Kunstwerk? In Düsseldorf kann man dieses Kunstwerk nun wie durch eine Vitrine betrachten, man bekommt die Oberfläche und einzelne Vertiefungen zu sehen, kann Spuren des Arbeitsprozesses sehen und spürt gleichzeitig, wie viele Schichten sich noch dahinter verbergen. Die Rückseite, das, was der Scheinwerfer verschattet, bleibt dem Blick verborgen. Der Katalog hilft dabei, eine Ebene tiefer zu blicken, um das Werk herum zu schreiten und wirft dabei neue Fragezeichen auf.
"Das Museum der Zwänge & Obsessionen geht gut voran. Es macht schrecklich viel Arbeit & ich glaube, ich werde zwei Leben brauchen, um es fertigzustellen", schrieb Szeemann 1974 an den Künstler Edward Kienholz. Vermutlich wird ein Besucherleben nicht reichen, um es komplett zu besuchen, aber die Eingangshalle des Museums ist nun in Düsseldorf begehbar.