Lee Bul hing 1989 mit nichts als einem Korsett bekleidet fast zwei Stunden lang kopfüber in der Luft, unfähig, sich zu bewegen. Die Performance "Abortion" der südkoreanischen Künstlerin war eine Erinnerung daran, wie elend es Frauen ergeht, die in ihrer Heimat abtreiben wollen – bis heute ist das dort illegal. Viele Werke der 54-Jährigen lassen sich politisch lesen. Doch fragt man sie selbst nach wiederkehrenden Themen ihrer Arbeit, sagt sie nur: "Mir geht es um die Grundlagen des Menschen." Weiter möchte sie nicht gehen. Das überlässt sie dem Publikum. Die Grundlagen des Menschen – das kann bei Lee Bul vieles heißen. Sie beschäftigt sich mit verschiedenen politischen Systemen, setzt sich mit Frauenrechten und mit dem Verhältnis von Mensch und Maschine auseinander.
Jetzt zeigt sie im Berliner Gropius Bau ihre erste große Einzelausstellung in Deutschland. Präsentiert werden Installationen, Zeichnungen und – zum ersten Mal – auch viele ihrer Gemälde. Die Installationen der Südkoreanerin wirken oft futuristisch, sind inspiriert von Architektur. "Crash" ist die erste Schau, die Stephanie Rosenthal als neue Direktorin des Gropius Baus kuratiert hat. Zu sehen ist dort auch Lee Buls neueste Arbeit "Scale of Tongue". Sie verweist subtil auf das Fährunglück der "Sewol". Das überladene Schiff kenterte am 16. April 2014 auf seinem Weg von Incheon nach Jejudo im Gelben Meer. Hunderte Menschen starben. Der Kapitän und weitere Crewmitglieder wurden zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sie das Schiff als Erste verlassen und die Passagiere alleingelassen hatten. Das Werk "Scale of Tongue" kann an den Rumpf eines Schiffes erinnern, aber genauso auch an eine bergige Landschaft oder eine improvisierte Unterkunft.
Lee Bul wurde 1964 in Yeongju geboren. Als Tochter Oppositioneller erlebte sie den Umbruch einer Militärdiktatur hin zu einer Demokratie. Sie entschied sich, Kunst zu studieren, weil sie merkte, dass sie Talent hat. Aber auch, weil sie als Tochter politischer Dissidenten kaum eine andere Möglichkeit hatte – die meisten Ausbildungswege waren blockiert. 1987 schloss sie das Studium der Bildhauerei an der Hongik University in Seoul ab. Heute ist Lee Bul eine der bedeutendsten Künstlerinnen ihrer Generation.
Zum Interview kommt Lee Bul ganz in Schwarz gekleidet, ungeschminkt, mit feiner Brille, die grauen Haare zum Zopf gebunden. Außer zwei schmalen Silberringen keinen Schmuck. Sie spricht leise und bedacht. Jede Situation im Alltag sei für sie inspirierend, sagt sie. Sie arbeite immer an vielen Projekten gleichzeitig, den Kopf ständig voller Ideen. Ihre Stimme ist tief und angenehm. Sie lächelt viel und lacht oft, glucksend und so ansteckend, dass man mitlacht, obwohl man kein Wort von dem versteht, was sie auf Koreanisch sagt. Zum Beispiel, wenn sie erzählt, wie sie sich Auszeiten von der Arbeit gönnt. "Ich besitze ein sehr weiches, sehr bequemes Sofa", sagt sie mit charmantem Lächeln. "Wenn ich mich daraufsetze oder -lege, schlafe ich sofort ein." Eine Strategie, die so einfach ist wie zuverlässig.
Als sie jung war, stellte Lee Bul in Performances ihren eigenen Körper in den Mittelpunkt, hinterfragte die Rolle der Frau in der Gesellschaft und das klassische Verständnis weiblicher Schönheit. 1990, ein Jahr nach "Abortion", lief sie in der Performance "Sorry for Suffering – You Think I’m a Puppy on a Picnic?" durch die Straßen von Tokio, eingepackt in einen orangeroten, monsterartig voluminösen Bodysuit. Eher verstörend als niedlich: eine Kritik an den strengen Regeln, die die Gesellschaft für das Verhalten und Aussehen von Frauen aufgestellt hat? Ein niedlicher Welpe ist zumindest das Letzte, das einem zu dem Outfit einfällt. Und das ist sicher kein Zufall.
Selbstbestimmung, Emanzipation und Feminismus sind Schlagworte, die im Kontext dieser Performances häufig fallen. Die Künstlerin selbst möchte sie nicht in den Mund nehmen. "Ich würde nicht sagen, dass das Feminismus ist. Mich interessiert der Körper, das ist heute auch noch so", sagt sie.
In der Tat beschäftigen sich auch viele andere ihrer Werke mit Körperbildern. In den 80er-Jahren war Lee Bul Gründungsmitglied von Museum, einem Kollektiv von Künstlern, Performern und Musikern aus der Offszene. International bekannt wurde sie 1998, als sie für den Hugo Boss Prize der Solomon R. Guggenheim Foundation in New York nominiert wurde. Dort stellte sie ihre "Cyborgs"-Serie (1997–2011) vor, eine ihrer berühmtesten Werkreihen.
Die Figuren erforschen das Streben nach Perfektion durch die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Sie erinnern an Roboter und sind doch menschlich. Die Posen der weiblichen Figuren, der "Cyborgs", sind unvollständig, ihnen fehlen verschiedene Gliedmaßen, manchmal auch der Kopf. Gleichzeitig sind ihre Maße eine Mischung aus Barbie und Pornostar, erinnern an Manga-Heldinnen mit großen Brüsten und schmaler Taille. Ein ungesundes, für viele unerreichbares Ideal. Auch, wenn Lee Bul das nicht so sagen möchte: Es liegt nahe, dass ihre "Cyborgs" darauf aufmerksam machen wollen und sollen, wie absurd der Schönheitswahn in unserer Gesellschaft ist.
Mit Anfang 30, erinnert sich Lee Bul, habe sie eine Phase gehabt, in der es ihr "zuwider war, wie eine traditionelle Künstlerin zu leben", jeden Tag ins Atelier zu gehen und von neun bis 20 Uhr zu arbeiten. "Deswegen habe ich damit aufgehört", sagt sie schlicht. Extrem produktiv ist Lee Bul dennoch. Sie trennt das Konzept von der Realisation, zeichnet ihre Gedanken auf, manchmal über eine lange Zeit hinweg, sammelt alles, bis die Idee konkret wird: "Es kann zwei Jahre dauern oder auch zehn, bis ich von der ersten Idee zur Realisierung komme."
In der Ausstellung kann der Besucher diese Entwicklung von der ersten hingeworfenen Skizze bis zum fertigen Kunstwerk verfolgen. "Crash" zeigt Dokumentationen von frühen Performances, skulpturale Arbeiten aus Serien wie "Cyborg", zentrale Werke ihrer utopisch inspirierten Skulpturen, neuere Installationen, Zeichnungen und Gemälde. Die Südkoreanerin liebt es, mit verschiedenen Materialien zu experimentieren: Perlmutt, Kristalle, Leder oder Samt spielen miteinander, beeinflussen sich gegenseitig, crashen auch manchmal – der Ausstellungstitel sei unter anderem auch diesem Gegensatz der Materialien entsprungen, so Kuratorin Rosenthal.
Am Ende des Gesprächs im Gropius Bau ist Lee Bul froh, dass sie bis zum Fototermin noch eine kleine Pause hat. Am Tag zuvor kam sie in Berlin an, spürt noch den Jetlag und die Sommerhitze. Was bedeutet ihr die erste Schau in Deutschland? "Viel", sagt sie. Lange habe sie an dieser ersten umfassenden Einzelausstellung gearbeitet. "Es ist ein bisschen so, als würde ich mich dem Betrachter komplett öffnen." Sie ist schon sehr gespannt, was die Besucher daraus machen.