Falls Sie Kainaz Amarias Artikel über die Notwendigkeit von Fotojournalisten, sich mit den dringenden #MeToo-Problemen in ihrer Mitte auseinanderzusetzen, noch nicht gelesen haben, sollten Sie das jetzt tun, bevor Sie hier weiterlesen. Anscheinend versucht die Welt des Fotojournalismus derzeit, etliche Skandale zu bewältigen, obwohl noch nicht klar ist, in welchem Ausmaß dies geschieht. Ein bekannter Fotojournalist hat sich leise aus einer Agentur verabschiedet, die er mitbegründet hatte, nachdem ein Bericht veröffentlicht wurde, "in dem mehrere Frauen ihn beschuldigten, eine Anzahl von Kolleginnen begrapscht und eingeschüchtert zu haben".
Die Agentur selber – VII – ließ verlautbaren, dass Anfragen bezüglich der diversen Beschuldigungen von sexueller Belästigung doch bitte an den Fotografen zu richten seien – als ob man absolut nichts damit zu tun hätte, was angeblich dort passiert ist. Na gut. Ich hab so das Gefühl, dass es nicht ausreichen wird, alles auf das schwarze Schaf zu schieben, wenn man sehen will, ob und wie das Problem im Kontext eigentlich aussieht. Und mit Kontext meine ich hier sowohl die Agentur selber als auch die Welt des Fotojournalismus. Aber was weiß ich schon? Vielleicht ist genau das die Idee?
Wie die meisten Leute bin ich kein Teil jener Welt. Was ich weiß, weiß ich durch Geschichten, die mir erzählt wurden, aber auch dadurch, dass ich mich mit Fotojournalisten unterhalten habe. "Wenn eine Branche so sehr von Männern auf jeder Ebene und in praktisch jeder größeren Institution dominiert wird", schreibt Amaria, "dann ist eine für Frauen vergiftete Umgangskultur das unvermeidbare Ergebnis." Die Zahlen in ihrem Artikel sind vernichtend: Es handelt sich um eine Branche, die von Männern dominiert wird, Männern, "die dafür verantwortlich sind, auf Fotos die Welt und ihre verletzlichsten Einwohner abzubilden".
Es ist Amarias Verdienst, dass sie ihn ihrem Artikel vorführt, warum genau diese Dominanz so problematisch ist. Es geht nicht "nur" darum, dass Fotografinnen systematisch benachteiligt werden. Da gibt es eben auch noch die Fotos. Das folgende Zitat von Nina Berman beschreibt sehr akkurat das Ergebnis, mit dem wir alle so sehr vertraut sind: "Im Wesentlichen handelt es sich darum, jemanden in einen anderen zu verwandeln, aus dem Glauben heraus, dass der Mann hinter dem Fotoapparat eine privilegierte künstlerische Einsicht hat und darüber hinaus von Natur aus überlegen ist – obwohl er selten die Sprache vor Ort spricht oder dort lebt oder irgendeine tiefergehende Verbindung hat zu dem, was er sieht."
Mit anderen Worten ist es also genau das, was den Fotojournalismus eben zum Fotojournalismus macht: sehr offensichtlich stilisierte Fotos, die üblicherweise auf einer emotionalen Ebene hochgradig manipulativ agieren, auf der anderen Seite aber tiefere Einblicke in das, was abgebildet wird, verwehren. Das funktioniert (wie man auf den Titelseiten von Websites und Zeitungen sehen kann), und zugleich funktioniert es eben nicht.
Die Thematik könnte hier ziemlich leicht ein Ende haben. Das würde all den Leuten passen, die wie ich nicht Teil der Welt des Fotojournalismus sind. Aber es ist nicht ganz so einfach. Im Fotojournalismus ist ein Macho-Kult zu beobachten, der sehr männliche Aspekte der Fotografie belohnt und den Rest benachteiligt.
Mir ist vollkommen klar, dass dies ein sehr großes Thema ist und dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass ich dem Thema gerecht werden kann. Ich möchte es aber dennoch versuchen.
Nach dem, was ich so höre, sind sich Fotografinnen der systematischen Benachteiligungen, denen sie unterworfen sind, sehr bewusst – dies in einer Branche, in der sie genauso engagiert sind wie ihre männlichen Kollegen. Diese Benachteiligungen sind zu zahlreich, als dass ich sie hier komplett auflisten könnte. Aber man könnte zum Beispiel mit dem Festival Rencontres d’Arles anfangen, das angeblich eines der wichtigsten Fotografiefestivals ist. Eine große Anzahl von Künstlerinnen und Künstlern veröffentlichte jüngst einen offen Brief in einer überregionalen französischen Zeitung, in dem sie den Festivaldirektor aufforderten, sinnvolle Schritte zu unternehmen, um das Problem der nahezu grotesken Unterrepräsentierung von Fotografinnen in Arles zu lösen.
Aber das größere Problem reicht noch viel weiter und tiefer. Wie klar sein sollte, schreibe ich diesen Artikel aus der Perspektive eines weißen Mannes in den mittleren Jahren, jemand, der sich mit den Herausforderungen und Hindernissen nicht auseinanderzusetzen hat, die jene erfahren, die nicht zu meiner privilegierten Gruppe gehören. Was ich weiß, weiß ich, weil ich versucht habe und immer noch versuche, mit so vielen Leuten wie möglich zu sprechen, die nicht zu meiner Gruppe gehören. Was ich weiß, ist freilich nur ein Bruchteil dessen, was sich wirklich abspielt.
Aber ich glaube auch, dass es selbst in meiner privilegierten Gruppe möglich ist, Zeuge zu werden, wie uns Wettbewerbsvorteile verschafft werden. Letztendlich stützt sich die Welt der Fotografie nicht nur auf Institutionen, sondern auch auf weitverbreitete Ideen, Werte und Annahmen, von denen viele ein Teil dessen geworden sind, was wir als die Geschichte der Fotografie bezeichnen. Und genau darum geht es mir im Folgenden.
Ein Beispiel: Wenn man eine Gruppe von Fotografen oder Fotografinnen über Garry Winogrand sprechen hört, könnte man denken, es handele sich um einen heldenhaften Feuerwehrmann, der in ein brennendes Haus gelaufen ist, um ein kleines Kind, dessen Katze und dazu noch alle frisch geborenen Kätzchen zu retten. In Wirklichkeit geht es aber um einen Mann, der vermutlich eine ganze Reihe von persönlichen Problemen hatte und der auf der Straße Fotos von anderen Menschen gemacht hat – das Ganze auf eine Art und Weise, die heutzutage nicht mehr uneingeschränkt akzeptiert wird. Irgendwie soll das aber cool sein, dass man da Leuten den Fotoapparat direkt ins Gesicht hält, und wenn die sich beschweren, wird noch gelacht (lustig ist das natürlich ganz und gar nicht). Und der Kult, der um diesen Fotografen aufgebaut wurde, findet sich in ähnlicher Form für viele andere Große der Fotografie wieder, und natürlich sind das fast nur Männer.
Oder nehmen wir die Idee des amerikanischen road trip. Da gibt es diese Romantik des einsamen Fotografen, der mit seinem Bulli und seiner Plattenkamera durchs Land fährt und "für den die amerikanische Straße seine Muse ist" – um den Pressetext eines relativ aktuellen Buches zum Thema zu zitieren. Zu dem Buch gibt es auch eine Ausstellung, in der 17 fotografische Positionen vertreten sind. Zwei von den 17 sind Fotografinnen.
Ich möchte jetzt aber auch klarstellen, dass ich nicht implizieren möchte, dass Winogrand oder das Buch oder die Ausstellung künstlerisch nichts taugen. Darum geht es mir nicht. Worum es mir geht – und da könnte ich noch unzählige weitere Beispiele anführen: Weite Teile der Fotografie werden von Themen dominiert, die sehr spezifisch männlich sind, ob es sich nun um männliche Künstler selber handelt (die die Geschichte der Fotografie allein schon deshalb dominieren, weil sie von einer sehr kleinen Gruppe kreiert wurde – zum Beispiel John Szarkowski) oder um männliche Ideen oder Ansätze. Mehr noch, einige der prominentesten Beispiele sind nicht nur einfach männlich, nein, sie gehen direkt ins Machohafte.
Es mag einige Leute überraschen, dass nicht alle Beispiele der männerdominierten Welt der Fotografie historisch sind. Selbst relativ neue Entwicklungen wie z. B. Instagram sind offen und deutlich gegen Frauen ausgerichtet. Im Fall von Instagram bedeutet dies die Zensur der Darstellung des weiblichen Körpers, ob es um Brustwarzen geht oder ums Stillen. Natürlich lassen sich diese Beispiele direkt ins Silicon Valley verfolgen, wo es ja auch ein riesiges Diskriminierungsproblem gibt.
Der Ausdruck "Macho" muss hier auch nicht unbedingt wortwörtliches Machogehabe bedeuten (das es, um das ganz klar zu sagen, natürlich auch gibt). Stattdessen geht es mir darum, die weitverbreitete Zurückweisung von vielen anderen Ansätzen zu beschreiben, die ganz genauso relevant sein könnten, es aber nicht sind. Eine extreme Folge kann dann sein, dass wir sie noch nicht einmal mehr wahrnehmen.
"Etwas, von dem Fische absolut nichts wissen, ist Wasser", schrieb Marshall McLuhan in "War & Peace in the Global Village", "weil sie über keine Gegen-Umgebung verfügen, die es ihnen erlauben würde, das Element, in dem sie leben, wahrzunehmen." Wir alle sind Fische, und die Welt der Fotografie, diese sehr männliche, oft einfach nur machohafte Umgebung, ist unser Wasser. Es ist überall um uns herum.
Aus vielerlei Gründen ist diese Situation problematisch. Die extremsten Beispiele werden von Kainaz Amaria in ihrem Artikel beschrieben. Aber es ist eben nicht so, als hätten diese Bespiele nichts mit dem Rest zu tun – es sind vielleicht einfach nur die Gegenden, wo das Wasser am trübsten ist.
Wir müssen versuchen zu verstehen, in welchem Ausmaß wir viele Ideen akzeptiert und verinnerlicht haben, die von einer sehr männlichen Denkweise herrühren. Das ist auch gerade deshalb so wichtig, weil der Rest unserer Kultur und Gesellschaft sich weiterentwickelt – und dieser Rest wird nicht auf uns in der Welt der Fotografie warten.
Die Winogrand-Welt, die Welt der sogenannten Straßenfotografie, versucht bereits, sich mit einer veränderten Umwelt auseinanderzusetzen: Die Leute auf der Straße wollen es einfach nicht mehr hinnehmen, dass irgendein Fotograf, eine Fotografin ihnen ohne ihre Erlaubnis einen Fotoapparat ins Gesicht hält. In weiten Teilen Europas ist dies nun auch gesetzeswidrig. Das neue europäische Datengesetz betrachtet Fotos als Daten, und es gibt den Bürgern die Möglichkeit zu entscheiden, was mit ihren Daten gemacht werden darf. Wenn ein Fotograf oder eine Fotografin also jemanden fotografiert, dann sind das nicht ihre Daten – es sind die Daten der Person im Bild. Und sie benötigt die Einwilligung dieser Person. In verschiedenen europäischen Ländern hat der Gesetzgeber Gesetze geschaffen, um auch die Rechte von Fotografen zu schützen.
Hier bieten sich dann zwei Lösungen an. Man kann einfach weiter auf der Straße fotografieren, egal was die breitere Öffentlichkeit nun sagt – was wissen die schon über Kunst? Das ist der Macho-Ansatz, der auch sehr gut zu dem impliziten Machogehabe der Straßenfotografie passt. Die andere Reaktion wäre, es zu akzeptieren, dass sich die Zeiten eben geändert haben, und dann zu versuchen, eine Lösung zu finden. Vielleicht böte sich ein neuer Ansatz an? Letztendlich ist es sowieso nicht klar, warum man jetzt noch so fotografieren sollte, als wären wir immer noch in den 1960er- oder 70er-Jahren.
Für viele Fotografinnen und Fotografen ist es leider immer noch die Lösung, sich auf das zurückzuziehen, was ein Außenseiter sehr leicht als selbstherrliches Gehabe wahrnehmen könnte. Diese Lösung dreht sich darum, Bedenken anderer einfach zurückzuweisen und auf die Rolle des Künstlers zu verweisen, eines Künstlers, dem im Namen der Kunst alles erlaubt ist. Ich persönlich halte diese Lösung für verfehlt. Natürlich verstehe ich, woher sie kommt: aus der Kunstgeschichte. Und ich verstehe die Idee der Freiheit der Kunst. Aber wenn deine Kunst auf Kosten anderer geht – muss man dann nicht auch deren Freiheit mit in die Überlegungen einbeziehen? Allgemein: Wie viel ist die Freiheit einer Person wert, wenn dieselbe Freiheit einer anderen Person explizit oder implizit abgesprochen wird?
Im Grunde geht es in vielen Diskussionen zum Thema Fotografie eben genau um dieses Thema, nämlich darum, dass die Freiheit einer Person oder Personengruppe beschränkt wird, ob es nun Fotojournalisten sind, die kurz einfliegen, um ein paar dramatische Bilder für die Seite 1 einer Zeitung zu machen, oder um Fotografinnen, denen die Möglichkeiten, die Männer haben, nicht zugestanden werden, oder um das Problem der Zustimmung in der Straßenfotografie.
Am Ende kann es die Welt der Fotografie nur bereichern, wenn diese Probleme angesprochen und gelöst werden. Genau das kann dann zu einer Welt führen, in der die Fotografie für alle offen ist, einer Welt, in der, zum Beispiel, 50 Prozent der Fotografen weiblich sind, ob es nun in Arles ist oder in den Fotografenhaufen, die sich um Politiker und Politikerinnen bilden. Genau das kann dann zu einer Welt führen, in der alle Stimmen Gewicht haben und gehört werden – und in der sie dann nicht nur gehört werden, sondern auch fotografiert werden in einer Art und Weise, die eben nicht mehr nur aggressiv männlich ist.
Wir Fische müssen endlich begreifen, in was für einem Wasser wir schwimmen. Und wenn ich hier "wir Fische" schreibe, dann meine ich zum größten Teil meine westlichen, männlichen Kollegen. Das heißt jetzt nicht, dass ich die anderen Fische ausschließen will – nachdem ich mit vielen von ihnen gesprochen habe, ist mir klar, dass sie sehr gut wissen, worum es geht. Die Welt der Fotografie war bislang sehr gut zu uns männlichen Fischen. Aber das darf nicht so weitergehen, wenn es bedeutet, dass alle anderen benachteiligt werden. Damit muss Schluss sein; je früher, desto besser. Damit genau das stattfindet, müssen wir jetzt damit anfangen zu gucken, wie sich so viele grundlegende Ansätze in der Fotografie auf männliches Denken zurückführen lassen.