Es ist schon eine Weile her, dass ein Kunstprojekt im kunstüberschwemmten, oft schulterzuckenden Berlin für einen solchen Wirbel gesorgt hat. Noch dazu ein Projekt in Planung, von dem noch immer nicht klar ist, wie es genau aussehen wird, oder ob es – Stichwort fehlende Genehmigung – überhaupt wie geplant stattfinden kann. Aber Mauer, DDR, Stalin, das zieht offenbar noch immer. Und außerdem handelt es sich beim megalomanen Gesamtkunstwerk "DAU" des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanowsky um ein mehr schlecht als recht gehütetes Geheimnis, bei dem gefühlt die Hälfte von Berlins Kulturschaffenden eine Rolle spielt, etwa der Filmemacher Tom Tykwer mit seiner Firma X Filme.
Nachdem die Berliner Festspiele am Wochenende offiziell verkündet haben, dass die Weltpremiere von "DAU" inklusive der Errichtung einer Mauerenklave für den kommenden Oktober unter ihrer Schirmherrschaft geplant ist, tragen nun viele Journalisten ihr angesammeltes Wissen zusammen – auch Monopol hatte im März über die damals noch unbestätigten Pläne für Khrzhanovskys Mauer-Installation berichtet.
Worum geht es also bei diesem Multimediaprojekt, das von der Bundesbeauftragten für Kultur Monika Grütters schon als "Weltereignis" bezeichnet wird? Hier bedarf es einer Differenzierung, denn das Projekt besteht aus vielen verschiedenen Kapiteln. Ilya Khrzhanowsky und sein Team wollen zum einen in Berlin ein Stück Mauer wieder aufbauen, am liebsten im neuen Prunkherz von Mitte am Kronprinzenpalais, in unmittelbarer Nachbarschaft der wohl größten Historienkulisse der Gegenwart: dem wiederaufgebauten Stadtschloss. Die Mauerstücke sollen schon gegossen sein, die Verhandlungen mit der Stadt und den Anliegern laufen noch. Das eingegrenzte Areal soll eine Zeitkapsel werden, ein interaktiver Mikrokosmos im Geiste des Überwachungsstaat Stalins, der vom Publikum betreten werden kann. "Sie entscheiden selbst, wie weit Sie gehen", heißt es im Trailer auf der "DAU"-Website.
Der Kern des Ganzen ist ein Widerspruch, der im Werk Khrzhanowskys eine zentrale Rolle spielt: Warum sollten Menschen sich freiwillig in die Simulation eines totalitären Systems begeben, das dann auch noch den Anspruch erhebt, die Bedeutung von Freiheit zu untersuchen? Eine brisante Frage in einer Stadt, in der noch immer viele reale Opfer der realen DDR-Diktatur leben.
Weder die Berliner Festspiele noch Khrzhanowskys Produktionsfirma Phenomen Films bestätigen diese Form des Mauer-Themenparks. Trotzdem ist dieses Format wahrscheinlich – ganz einfach, weil der Regisseur im vergangenen Jahr an der Volksbühne schon einmal dasselbe vorhatte. In diesem Fall sollte zum Beginn der Intendanz von Chris Dercon guerillaartig der Rosa-Luxemburg-Platz ummauert werden. Das Theater wäre als Insel in einem sozialistischen Ministaat stehengeblieben, für die Filmaufführungen im Haus hätte man ein Visum beantragen müssen. Doch das Projekt scheiterte. Zurück blieben eine Lücke in Dercons Spielplan und verärgerte bis paranoide Anwohner rund um die Volksbühne, die mit dem aufdringlich auftretenden Produktionsteam eher unangenehme Erfahrungen gemacht hatten.
Nun also der nächste Anlauf Unter den Linden. Und Berlin allein ist nicht genug. Auch in Paris und London sollen "DAU"-Performances unter dem Motto "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" stattfinden. Mit großen Worten und Gesten wird also nicht gespart.
Das größte von Khrzhynovskys sozialen Experimenten ist jedoch längst über die Bühne gegangen, ohne dass es viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. "DAU" in Berlin ist gleichzeitig auch die Weltpremiere von 13 (!) Kinofilmen und mehreren Serien, die der Regisseur ab 2008 nahe der ukrainischen Stadt Charkow gedreht hat und an denen sieben Jahre lang geschnitten wurde. Khrzhanovsky ließ dort Teile einer originalgroßen sowjetischen Stadt nachbauen und schickte 400 Schauspieler und Bewohner der Umgebung über zwei Jahre immer wieder in die Vergangenheit. Wer sich über diesen Ausdauerdreh zu informieren versucht, stößt schnell auf Superlative: das größenwahnsinnigste Filmprojekt aller Zeiten, das wildeste Experiment der Filmgeschichte.
Der einzige Reporter, der bisher über seinen Besuch in der Kulissenstadt geschrieben hat, erzählt von sektenartigen Strukturen und totaler Kontrolle Khrzhanovskys am Set: Wer ins "Institut" hineinwollte, musste jegliche moderne Elektronik abgeben und wurde in original-sowjetische Kleider gesteckt, alle Beteiligten hatten zu jeder Zeit einen Pass mit Datumsstempeln der Vergangenheit zu tragen und zeitgenössische Sprache wurde genauso bestraft wie Mangel an Disziplin (Zuspätkommen kostete einen ganzen Tageslohn). Im "GQ"-Magazin berichtete der Reporter Michael Idov 2011, dass für viele der Beteiligten die Kulisse nach und nach zur Realität geworden sei. Filmschaffende aus aller Welt seien dauerhaft nach Charkow gezogen, am Set seien mehrere Kinder entstanden. Idov zitiert Stimmen von Mitwirkenden, nach denen das Arbeiten für Khrzhanovsky Sklaverei ähnele. Andere sprachen dagegen von der besten Erfahrung ihres Lebens – fordernd bis an die persönlichen Grenzen, aber befriedigender als jedes Projekt in der Gegenwart.
Die Handlung dreht sich um die sex- und machtgeladene Biografie des Physik-Nobelpreisträgers Lew Landau, viele der Szenen seien jedoch ohne Skript aus der Improvisation und dem realen Stress der Schauspieler heraus entstanden. Die modernen Kameras wurden in neutralen Hüllen versteckt, die Produktionstage sollen bis zu 24 Stunden gedauert haben, und am Ende der Dreharbeiten ließ der Regisseur sein Set von einer Gruppe Neonazis verwüsten – inklusive inszeniertem Massaker an seinem Team. In Berlin sollen die Ergebnisse aus gut 700 Stunden Filmmaterial nun zum ersten Mal gezeigt werden. Und passend zum Jahrestag des Mauerfalls am 9. November soll wohl auch hier die Zerstörung der Sowjet-Kulisse zelebriert werden. Am Dienstag teilte das zuständige Bezirksamt mit, sie habe sich mit den verschiedenen zuständigen Verwaltungen darauf verständigt, bis zum 30. August die dringendsten Fragen zur Durchführung und mögliche Probleme zu benennen. Kommende Woche will auch der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, zusammen mit der verantwortlichen Produzentin Susanne Marian bon Phenomen Berlin ein Pressekonferenz geben. Khrzhanovsky wird daran nicht teilnehmen.
Aber wer ist eigentlich dieser Ilya Khrzhanowsky, der den meisten Filmliebhabern noch unbekannt sein dürfte und trotzdem ein solches Megaprojekt auf die Beine stellt? Der 43-jährige Moskauer ist der Sohn des russischen Filmemachers Andrei Khrzhanowsky und wurde 2004 für seinen bisher einzigen Spielfilm "4" in den Regiehimmel gelobt. Das psychedelische Horrormärchen, in dem sich die erfundenen Biografien der Protagonisten langsam in Realität verwandeln, gewann den Tiger Award beim Filmfestival Rotterdam und weckte hohe Erwartungen für das Nachfolgeprojekt "DAU".
Das Filmfestival in Cannes zeichnete das Vorhaben 2006 als eines der vielversprechendsten der Kinowelt aus, die Fördergelder kamen aus ganz Europa, unter anderem von Arte und dem Medienboard Berlin-Brandenburg. Doch diese Gelder decken noch lange nicht die Kosten für ein Zehn-Jahres-Projekt mit Hunderten Beteiligten. Die Berliner Festspiele betonen, dass "DAU" ein Gastspiel ist und keine Bundesmittel dafür verwendet werden. Die Finanzierung kommt maßgeblich aus Russland, immer wieder wird der IT-Unternehmer und Investor Sergei Adoniev als Khrzhanovskys Gönner genannt.
In Berlin brauen sich schon jetzt Empörung, Vorfreude und Verwünschungen für das geplante Mauer-Schauspiel zusammen. Doch was "DAU" nun werden wird – ein Weltereignis, Historienkitsch oder die Verherrlichung von Totalitarismus – wird sich erst noch zeigen. In der deutschen Hauptstadt wird in jedem Fall wieder über die Mauer gesprochen. Und allein das kann in einer Zeit, in der geschlossene Grenzen ein Dauerthema sind, durchaus produktiv sein.