Es ist eine weltweit einzigartige Sammlung von Stimmen, Sprachen und Dialekten. Das Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität bewahrt über 7500 Schellackplatten mit historisch wertvollen Tondokumenten auf. Herzstück sind Aufnahmen von Kriegsgefangenen aus aller Welt, die während des Ersten Weltkriegs in deutschen Lagern interniert waren.
Vom kommenden Jahr an soll der bisher weitgehend ungehobene Schatz im Berliner Humboldt Forum zugänglich gemacht werden. "Wir erhoffen uns von dem Umzug einen Durchbruch", sagt der Sammlungsleiter Sebastian Klotz. Vor allem gehe es darum, in den Heimatländern der Gefangenen Partner zu finden, mit denen man gemeinsam die historischen und familiären Hintergründe erforschen könne. "Wir wollen den westlichen Blick nicht nochmal reproduzieren."
Das Lautarchiv geht auf eine Initiative des Englischlehrers Wilhelm Doegen zurück. Er wollte "die Stimmen der Völker" für den Sprachunterricht sammeln. Im geheimen Auftrag macht sich die seit 1915 von ihm mitgeführte Königlich Preußische Phonographische Kommission an das ehrgeizige Projekt: In den deutschen Internierungslagern entstehen mehr als 1600 Aufnahmen von Gefangenen in 250 Sprachen - von Algerisch bis Koreanisch, von Afghanisch bis Georgisch. Später kommen auch die Stimmen von Prominenten und eine Sammlung deutscher Dialekte hinzu.
Noch lagern die Platten in ihren alten, mit grünem Filz ausgeschlagenen Dokumentenschränken in einem Gebäude gegenüber der Museumsinsel. Der ehrenamtliche Sammlungsleiter Klotz, im Hauptberuf Professor für transkulturelle Musikwissenschaften, zieht mit weißen Handschuhen vorsichtig einen Schuber heraus.
Ein mit sauberer Schrift akribisch ausgefüllter Personalbogen gibt Auskunft, dass auf dieser Platte der georgische Gefangene Giorgi N. aus Kandaura am 2.11.1916 im Lager Mannheim eine "kurze Anekdote" vorträgt. Er könne "etwas lesen" und "etwas schreiben" und habe auch russische Sprachkenntnisse, hält das Papier fest.
Auf einem anderen Tondokument ist die Rede des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert nach seiner Vereidigung vor der Weimarer Nationalversammlung 1919 zu hören. Es kratzt und rauscht, aber die Stimme ist klar zu verstehen, die die Grundprinzipien von "Freiheit, Recht und sozialer Wohlfahrt" für die neue Republik beschwört. "Das könnte man heute nochmal so halten", sagt Berlins Regierungschef Michael Müller, der das Lautarchiv am Mittwoch bei seiner traditionellen Sommertour besucht.
Die Sammlung gilt als ein Beispiel für gelungene Digitalisierung. Die Bestände sind fast durchgehend mit den neuen technischen Möglichkeiten erfasst und damit für die Nachwelt aufgehoben. Die viel schwierigere Frage wird aber sein, wie man im Humboldt Forum, dem ambitionierten neuen Museumsquartier im wiederaufgebauten Berliner Schloss, mit dem sensiblen historischen Erbe umgeht. Wem gehören die Stimmen von Gefangenen, die - womöglich unter Druck oder Gewalt - ihre "Stimmproben" abgeben mussten?
Wegen der schwierigen juristischen und ethischen Fragen behandele man die Sammlung sehr sorgsam, versichert Klotz. So würden Anfragen nach Sprachdokumenten genau daraufhin geprüft, ob der Nutzer sie auch wirklich verantwortlich präsentiere. "Wir wollen deutlich machen, dass man die Dokumente zwar mit einem Mausklick aufrufen kann, dass sie aber nicht einfach so da sind."