Es gibt wohl nicht viele Lieder, die die deutsche Stadt Göttingen im Titel tragen. Und auch das Lied, das die französische Chansonsängerin Barbara 1964 darüber sang, kennen heute wohl nicht mehr besonders viele Menschen. Barbara, die nur zwanzig Jahre vorher mit ihrer jüdischen Familie vor den Nazis fliehen musste, hatte nach einigem Zögern eingewilligt, in Göttingen ein Konzert zu geben, und danach ein Versöhnungslied geschrieben: "Die Kinder sind immer die gleichen, in Paris oder in Göttingen", heißt es darin.
Jetzt kann man dieses Lied neu hören, in deutscher Übersetzung, in der klaren Stimme von Michaela Meise. Die in Berlin lebende Künstlerin arbeitet mit vielen unterschiedlichen Medien und Techniken: Keramik, Malerei, Fotografie, Installation. Immer ist ihr Werk von intensiver Recherche grundiert, setzt sich mit Geschichte, Theorie, Kunstgeschichte auseinander. 2011 überraschte sie mit einer Platte mit katholischen Kirchenliedern, wo sie unter anderem mit Dirk von Lowtzow von Tocotronic das Lied mit dem unvergleichlichen Titel "Preis dem Todesüberwinder" im Duett sang. Und jetzt: Chansons der Nachkriegszeit, von den Französinnen Barbara und Alexandra, von Georges Moustaki, dazu viele von dem Griechen Mikis Theodorakis und ein rumänisches Volkslied.
Meise hat die Lieder mit Hilfe von Freunden selbst ins Deutsche übertragen, sie begleitet sich auf dem Akkordeon, für einige Songs war auch die Berliner Band Isolation Berlin mit im Studio.
Die Lieder entstanden in einer Zeit, als die Wirtschaftswunderdeutschen sich die ersten "Fremdarbeiter" herbeikarrten und im Sommerurlaub in Griechenland und Spanien auf Menschen trafen, die vor eine Generation noch unter deutschen Kriegsverbrechen gelitten hatten und nun in Diktaturen lebten. Während in Deutschland Peter Alexander von den "Beinen von Dolores" knödelte, beschäftigten sich die Lieder von Mikis Theodorakis mit dem Exil, der Arbeitslosigkeit und der Shoah, und Georges Moustakis bitterer Chanson "Le Métèque", damals von Walter Brandin vorsichtig übersetzt als "Fremder", meint eigentlich Kanake. Zu dieser europäischen Musiktradition zurückzugehen, bedeutet für Meise auch, die Frage nach einer populären und trotzdem politischen Kunstform zu stellen.
"Ich bin Griechin" lautet der Titel von Meises Album, eine Referenz an ein Lied von Melina Mercouri, die, von der griechischen Militärjunta ins Exil getrieben, "Je suis Grecque" sang. "Ich bin Griechin" markiert aber auch schon im Titel Michaela Meises Aneignungsstrategie, die die Verbindung zu ihrer künstlerischen Praxis schafft. Meise nimmt sich diese Lieder, wie sie sich ein Kunstwerk der Moderne nehmen würde, klopft sie auf Referenzen ab, transportiert sie in einen neuen Kontext. Ihr gerader Chormädchen-Gesang performt die Geste der Aneignung mit, und auch die Distanz, die zwischen ihr, der Deutschen 2018, und einem griechischen Sänger im Exil in den 60ern besteht. Erst in dem Raum, den diese Distanz schafft, kann die geradezu ergreifende Ernsthaftigkeit wachsen, die die melancholischen Aufnahmen umgibt.
Meise sagt, sie habe diese Musik als Kind bei den Eltern zu Hause und bei Urlauben in Griechenland kennengelernt. Als sie 2012 mit dem Projekt begann, ging es erst um historische Recherche, heute ist die Nostalgie einer beklemmenden Tagesaktualität gewichen. Nicht zuletzt gelingt Meise mit ihrer akribischen Übersetzungen der Texte und in der liebevollen Neuinterpretation der Musik eine basale kulturelle Operation, die im #MeTwo-Deutschland von heute viel zu oft immer noch fehlt: den Menschen, die in fremden Sprachen sprechen, zuzuhören, sich in sie einzufühlen und ihre Anliegen verständlich zu machen.