Shilpa Gupta in Baku

"Träume sind unzerstörbar"

Die indische Künstlerin Shilpa Gupta hat im aserbaidschanischen Baku eine Ausstellung eröffnet, die um Redefreiheit kreist – in dem Land am Kaspischen Meer ein brisantes Thema

Die Show beginnt auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum. Die neuen Hochhäuser von Baku leuchten nicht einfach, sie sind Riesen-Screens für bewegte Bilder. Geometrische Lichtmuster huschen über die Fassaden, auf den Animationen werden Fahnen geschwenkt oder Großfeuer entfacht. Andererseits scheint eine geisterhafte Leere in der Hauptstadt Aserbaidschans zu herrschen. Als würde in der Metropole am Kaspischen Meer gar nicht für die Bewohner gebaut. Im kommenden Jahrzehnt sollen in Baku 500 neue Gebäude entstehen. Die drei "Flame Towers", die bis zu 200 Metern hohen Glastürme, sind bereits hochgezogen. Die Aserbaidschaner haben es eilig, ihre UdSSR-Vergangenheit hinter sich zu lassen. In einigen Vierteln dominieren noch die Betonklötze aus der Sowjetzeit. Was sich zumindest nachts mit Lichtkaskaden ganz gut überspielen lässt.

"Die Aserbaidschaner mögen diese Glitzersachen", erklärt Suad Garayeva-Maleki. Für die neue künstlerische Direktorin von Yarat entspricht das Bling-Bling der Fassaden einer persischen Tradition. Yarat – was auf Aserbaidschanisch "Schaffen" bedeutet –, ist eine gemeinützige Organisation mit Sitz in Baku. Ziel der 2011 gegründeten Organisation ist es, im Kaukasus und Zentralasien Gegenwartskunst und ihr Publikum zu fördern.

In Baku nutzt Yarat zwei ehemalige Marine-Gebäude. Man müsse auf den lokalen Kunst-Traditionen aufbauen und gleichzeitig zeitgenössische Wege aufzeigen, erklären Garayeva-Maleki und der Kurator Björn Geldhof. Der Belgier, bis 2017 Yarat-Leiter, ist inzwischen zum Pinchuk Art Center in Kiew gewechselt, aber weiter als Kurator in Baku tätig. Etwa für die Soloschau der indischen Künstlerin Shilpa Gupta, die am Wochenende eröffnet wurde. Das traditionelle Pendant ist im Nebengebäude zu sehen: Aserbaidschanische Maler der 60er- bis 80er-Jahre werden dort präsentiert, in einer Schau, die sich um "Arbeit, Freizeit und Träume" dreht. Neben Ausstellungen veranstaltet Yarat regelmäßig Workshops, Diskussionen und Festivals veranstaltet, um den Horizont des Publikums zu erweitern.

Was die Pressefreiheit angeht, rangiert Aserbaidschan auf der Rangliste der Organisation Reporter ohne Grenzen derzeit auf Platz 162 (von 180) und liegt damit deutlich hinter den Nachbarländern Georgien und Armenien. Trotzdem gebe es keine Zensur seitens der Regierung, betonen Garayeva-Maleki und Björn Geldhof. "Wir haben allerdings Rücksicht auf das Publikum zu nehmen", sagt Geldhof – "eine junge Institution wie Yarat provoziert, testet Schritt für Schritt die Möglichkeiten aus, darf sich dabei aber nicht selbst verbrennen."

Auf jeden Fall ist sie durchaus brenzlig, die neu eröffnete Ausstellung von Shilpa Gupta bei Yarat. Sie kreist um das Thema der in Aserbaidschan keineswegs selbstverständlichen Redefreiheit. Shilpa Guptas Installation "For, in Your Tongue I Cannot Fit – 100 Jailed Poets" besteht aus hundert Mikrofonen, die zu Lautsprechern umfunktioniert wurden. Zu hören sind Texte von hundert Dichtern verschiedener Länder, die wegen ihres Schaffens ins Gefängnis gesteckt wurden. Der Titel bezieht sich auf ein Gedicht des aserbaidschanischen Dichters Nesimi, der Anfang des 15. Jahrhunderts starb. Vertreten sind Autoren bis in die jüngste Zeit. So sind auch Zeilen des chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo zu hören, der 2017 in Haft starb. Die herabhängenden Mikrofone hat Gupta mit einem Wald aus Stangen kombiniert, auf denen Blätter mit Gedichtzeilen aufgespießt sind. Auf den Zetteln sind auch die Jahre aufgeführt, in denen die jeweiligen Poeten inhaftiert waren.

Shilpa Gupta macht einen zugleich erschöpften und erleichterten Eindruck, als sie uns wenige Stunden vor der Eröffnung durch ihre Ausstellung führt. Technisch sei der Aufbau der zentralen Installation aufwendig gewesen, "das hat bis sieben Uhr morgens gedauert", seufzt die wahrscheinlich bekannteste Künstlerin Indiens. Die Dichter habe sie nicht allein recherchiert, das ist Gupta wichtig, "eine große Gruppe an Menschen hat zu dieser Installation beigetragen." An Sprache fasziniert sie, dass Worte nicht aufzuhalten und einzuhegen sind. "Man kann den Körper fesseln, aber die Sprache nicht", sagt Gupta, "denn die Sprache findet ja auch im Kopf statt. Imagination kann nicht beschnitten werden, Träume sind unzerstörbar."

Entsprechend hat Gupta auf einem langen Tisch lauter Bücher verbotener Dichter angeschraubt. Die Bände sind nicht aus Papier, sondern aus Metall gefertigt; "Bücher können Waffen sein", sagt Gupta.

Es sind – neben der ausgedehnten Mikrofon-Installation – viele kleinere, fast minimalistische Werke, die in Guptas Schau ein Gefühl geben von den Riesenräumen, in denen Gedanken fliegen und Sprache frei flottiert. Im Untergeschoss des Yarat-Showrooms ist eine Anzeigetafel zu sehen, auf der unablässig die Buchstabenkombinationen wechseln. Doch statt Flugdaten flackern instabile Texte auf, changieren mit jedem hinzgefügten oder weggenommenen Wort die Bedeutungen.

 

Eine Reihe von Bildobjekten bezieht sich auf eine Textzeile von Joseph Brodsky, der 1964, in der Stalin-Zeit, zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Zu sehen sind weiße Papierblätter, aus denen Nadelspitzen ragen. Es entstehen unregelmäßig konturierte Formen, die an Landkarten erinnern. Gupta, auf diese Assoziation angesprochen, findet das interessant: "Sobald wir weder eine geometrische Form noch etwas Figuratives ausmachen können, erinnert uns eine geschlossene Form immer an eine Landkarte", sagt die Künstlerin, "dieses Denken ist doch ziemlich befremdlich, nicht?"

Wahrscheinlich hat Shilpa Gupta recht. Doch ob befremdlich oder nicht: Heutzutage werden Grenzen eher hochgezogen als gelockert oder aufgelöst. In Europa beherrscht das Thema "Grenzsicherung" die Tagespolitik. Für die Organisation Yarat in Baku geht es eher darum, Denkräume zu öffnen, immaterielle, aber erstaunlich feste Grenzen des Sag- und Zeigbaren aufzulösen. Aus religiösen, kulturellen und politischen Gründen ist das keine leichte Aufgabe. Die aserbaidschanische Kulturbaustelle wird bleiben, wenn die geplanten Paläste aus Glas und Stahl schon alle hochgezogen sind. "Es wird dauern", sagt auch Suad Garayeva-Maleki, "weil es ein langer Prozess ist, wenn man den Blick der Leute ändern will."