Zivilisation, wohin man blickt: Menschenmassen auf Bahnsteigen irgendwo in Japan, ein Wald aus Windrädern, Straßenverkehr in Indien, Postpakete, die durch ein logistisches Labyrinth gleiten. Dann die wenigen Lichtblicke der verlangsamten Bewegung, wenn Ameisen Gras absuchen, Schnee schmilzt oder eine Zigarette langsam erlischt. Alles hat mal ein Ende, mag die Welt noch so rasen.
Unterlegt ist diese über drei Wände laufende Bilderflut zwischen kapitalistischem Boom und Vanitas mit einer apokalyptisch klingenden Tonspur. Das Material für seine überwältigende Videoinstallation "Glacier" von 2013 hat Charles Atlas in den Archiven von Bloomberg gefunden.
Der Datenlieferant handelt mit den Aufnahmen. Man mag sich gar nicht ausmalen, in welchen Kontexten etwa das Händchen haltende lesbische Pärchen auftaucht. Zum Glück verwandeln sich die allzeit verwertbaren Impressionen plötzlich in riesige Buchstaben. Sie machen sich hochziehenden Jalousien Platz, die auf eine Straßenecke in London hinausblicken lassen. Dank dieses Trompe-l'œil-Effekts öffnet sich ein Fluchtweg in die, nun ja, Zivilisation.
Charles Atlas ist ein Pionier, der allen anderen immer einige Schritte voraus war, ob als Tanzdokumentarist, Videoperformer oder Installationstechniker. In seiner jüngsten Mehrkanalinstallation "The Years", 2018 entstanden, zeigt sich noch einmal die Essenz des bald 50 Jahre umfassenden Werks. Die Pyramide aus zehn Monitoren ist zwar stumm. Aber die collagierten Sequenzen aus 77 Filmen entfalten einen Sog, der in Atlas' Welt zieht. Jeder Bildschirm enthält einen Zeitraum von zwölf Schaffensjahren. Es gibt ein Wiedersehen mit Merce Cunningham und John Cage, der Underground-Band Sonic Youth, dem mit Identitäten jonglierenden Performer Leigh Bowery, der jungen Marina Abramović und der in die Zukunft tanzenden Yvonne Rainer.
Und auch an Drag-Performer Lady Bunny, der schon in Atlas' Beitrag zur letzten Venedig-Biennale im Arsenale die Missstände in den USA singend anprangerte, führt kein Weg vorbei. Drei weitere Arbeiten bezeugen seinen experimentellen Furor, allen voran "Institute for Turbulence Research" von 2008, eine Geisteraustreibung. Stühle und Schaufeln tanzen unkontrolliert durch den Raum. Was man für einen Abgesang auf eine abwesende Menschheit halten könnte, ist von Tornado-Erlebnissen aus der Kindheit inspiriert. Atlas bettet sie in eine lärmende Projektion aus rotierenden abstrakten Objekten ein.
Man wähnt sich in einem Film aus den 20er-Jahren, steckt aber mitten in einer immer noch großartig geölten Ideenmaschine.