Der Titel passt, obwohl wir den Film noch nicht gesehen haben: "America Land of the Freeks" heißt der letzte Film von Ulli Lommel, der im vergangenen Dezember starb. Laut Pressetext spürt Lommel in seiner in der Berlinale-Special-Sektion laufenden Doku dem krassen Individualismus der Amerikaner nach. "Willkommen in Freakland!", rufen auch die beiden US-Produktionen, die im Wettbewerb aufgestellt sind. Nun lässt sich von nicht wenigen Spielfilmen behaupten, sie glichen einem Kuriositätenkabinett, aber nirgendwo paart sich die Verrücktheit deutlicher mit unbegrenztem Optimismus als in den beiden amerikanischen Bären-Jägern "Damsel" und "Don't Worry, He Won't get Far on Foot".
Die Gebrüder David und Nathan Zellner haben mit "Damsel" einen streckenweise sehr witzigen Neo-Western gedreht, dem man allerdings anzusehen meint, dass die Zellners gerne die Coens wären (Ethan und Joel haben ja auch im Stiefel-und-Sporen-Genre gewildert, ihr "True Grit"-Remake eröffnete 2011 die Berlinale). Aus dem Ensemble ulkiger Westerner ragt Robert Pattinson heraus, seine Figur namens Samuel Alabaster ist auf der Suche nach Penelope (Mia Wasikowska), die er abgöttisch liebt und die ihm entführt wurde.
Weil Alabaster seine damsel (deutsch: Maid) sofort nach der Befreiungsaktion zu ehelichen gedenkt, engagiert er einen versoffenen Priester Henry (David Zellner) für die Mission. Das Hochzeitsgeschenk trottet praktischerweise (?) auf vier Beinen nebenher: Zwergpony Butterscotch; außerdem hat der depperte Held eine Gitarre geschultert. Am Lagerfeuer probt er schon mal ein Liebeslied, in dem gefühlt hundertmal das Kosewort honeybun vorkommt.
Doch Alabasters Treuherzigkeit, die man auch Selbstüberschätzung nennen könnte, wird bitter enttäuscht. Insofern brechen die Zellners mit Hollywoodklischees, was man ihnen positiv anrechnen muss. Aber da der amüsante Möchtegern-Bräutigam sich allzubald erledigt hat (im wahrsten Wortsinn), fängt die Story an zu lahmen wie ein angeschossener Gaul. Mia Wasikowska als ruppige Penelope, die jetzt das Kommando übernimmt, reißt es nicht raus.
Da sieht man wieder, wie wichtig sattelfeste Drehbücher sind. Gus van Sant kann sich auf ein solches stützen. Der Titel seines neuen Films "Don't Worry, He Won't get Far on Foot" entstammt übrigens der Textzeile eines Western-Cartoons, der in der Prärie angesiedelt ist. Ein paar Reiter kommen vor einem leeren Rollstuhl zum Stehen, der Sherriff erklärt: "Keine Sorge, der kommt nicht weit."
Rollstuhlwitze und andere bitterböse Zeichnungen waren die Spezialität des querschnittsgelähmten Cartoonisten John Callahan (1951-2010), auf dessen Erinnerungen das Drama basiert. Erzählt wird die uralte amerikanische Geschichte von einem Unglücksraben, der wie Phönix aus der Asche seiner Misere zu steigen vermag. Angefangen hat alles in der Kindheit: "Drei Dinge weiß ich über meine Mutter. Sie kam aus einer irischen Familie, hatte rotes Haar und war Lehrerin. Ach ja – und sie wollte mich nicht."
Das ist ein Standardsatz von John (Joaquin Phoenix), der in einer Adoptivfamilie aufwuchs und nie aufgehört hat, seine leibliche Mutter zu suchen. John lebt in LA und trinkt. Doch sein echter Leidensweg beginnt an einem Tag im Jahr 1972, mit einem Autounfall, bei dem John als Beifahrer schwer verletzt wird. Minutiös schildert van Sant die Krankenhausroutine, zeigt kaltschnäuzige Ärzte und einen in einem Spezialbett festgeschnallten Patienten, der nie wieder wird gehen können.
Nach der Reha säuft John weiter, schließt sich einer Gruppe Anonymer Alkoholiker an und zieht sich allmählich aus dem Sumpf des Selbstmitleids. Wie ein Engel schwebt Annu (Rooney Mara) in den Film, Johns spätere Freundin, erst Reha-Betreuerin, dann treffenderweise Stewardess. John hat also viele gute Geister um sich, die ihn dabei unterstützen, seine verborgenen Fähigkeiten zu entwickeln. Mit zittrigen Händen beginnt er zu zeichnen, seine boshaften Cartoons werden bald in Zeitschriften gedruckt. Aber es sind die empörten Leser, an denen sich John am meisten erfreut, "die sind ehrlich", sagt der Künstler.
Mit sichtlicher Freude schmuggelt Gus van Sant ("My private Idaho", "Paranoid Park", "Milk") einen anarchischen Helden in eine Mainstream-Geschichte ein. "Don't Worry" strotzt zudem von geschmacklosen Zoten, gibt Sextipps für Behinderte, zeigt wiederholt Johns Probleme mit seinem Urinbeutel und feiert überhaupt das Körperliche auch da, wo die Körperfunktionen eingeschränkt sind.
"Don't Worry" ist letztlich ein Gutfühlfilm, aber die geschilderten Probleme – Alkoholsucht, Behinderung, die Schwächen des Gesundheitssystems in den USA – werden nun auch nicht weichgespült. Nach zwei missglückten Filmen, "Promised Land" (Wettbewerb 2013) und "The Sea of Trees" (2015 in Cannes durchgefallen) scheint Gus van Sant kreativ wieder durchzustarten. Ein typischer Berlinale-Sieger sieht trotzdem anders aus. Der fulminante Hauptdarsteller Joaquin Phoenix könnte aber in die engere Wahl für einen silbernen Darsteller-Bären kommen.