Engadin Art Talks

Das Erhabene und die Serverfarm

Im Schweizer Engadin entdeckt der Architekt Rem Koolhaas das Land als Ort der Globalisierung und des Wandels

Rem Koolhaas ist ein Meister des Slogans. Vor Jahren prägte der niederländische Architekt und Theoreriker die Sentenz: "Die Stadt ist alles, was wir haben". Viele Studien und Bücher über die Metropolen der Gegenwart später nimmt Koolhaas die andere Seite des Gegensatzpaares in den Blick: das Land. Ein mehrjähriges Forschungsprojekt, das er gemeinsam mit zahlreichen Mitarbeitern an seinem Institut OMA durchgeführt hat, wird im Herbst in einer großen Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum präsentiert. Jetzt nutzte Koolhaas eine wunderbar ländliche Location, um vorab erste Ergebnisse zu präsentieren: als Hauptredner der Engadin Art Talks, zu denen am Wochenende 200 Gäste in die Alpenidylle des Engadiner Bergdorfes Zuoz kamen.

Künstler, Kuratoren, Architekten und Theoretiker entwickelten in einem von Daniel Baumann, Bice Curiger, Hans-Ulrich Obrist und Philip Ursprung kuratierten Symposium unter dem Titel "Side Country Side" neue Theorien des Ländlichen und füllten auf unterschiedliche Weise Koolhaas' zentrale These mit Leben: Das Land ist nicht die Bastion der Tradition, sondern ein Ort des radikalen Wandels; es ist ebenso von der Digitalisierung und Globalisierung betroffen wie die Stadt. Ja, es ist, wie Koolhaas meint, sogar der entscheidende Agent des Wandels. Denn nur auf dem Land ist Platz für die gigantischen neuen Fabriken, die Serverfarmen und Distributionszentren, die die digitalisierte Konsumgesellschaft versorgen können. Ihre unerreicht mächtigen Dimensionen und ihre skrupellos funktionale, "cartesianische" Ästhetik produziere, so Koolhaas, das Erhabene der Gegenwart – die Versuche der amerikanischen Land Art Künstler von Robert Smithson bis Michael Heizer, die Landschaft zur Kunst umzugestalten, würden davon mühelos in den Schatten gestellt. Das Bild einer Salatfabrik, streng rasterförmig angelegt und mit schummrigem Rotlicht für das perfekte Pflanzenwachsum beleuchtet, zeigte Koolhaas als Beispiel einer Ästhetik, die dem gefälligen Beige der aktuellen Menschenbehausungen echte Modernität entgegensetzt. In manchen Gegenden der USA wird Landwirtschaft komplett vom Computer gesteuert, megaeffiziente Maschinen bewirtschaften riesige Flächen, auf denen kein Baum mehr steht – die Ödnis des Posthumanen.

Der Amerikaner Aric Chen, Kurator am im Bau befindlichen M+ Museum in Hongkong, ergänzte den Befund vom globalisierten Land durch einen Hinweis auf die Rückkehr zum Dörflichen in China. Wo jahrzehntelang die Bevölkerung in die Städte wanderte, würden jetzt durch neue Paketzentren für den Onlinehandel die ländlichen Standorte wieder aufgewertet, Bevölkerung und auch Firmen siedelten sich wieder im gigantischen Hinterland Chinas an.

Dem argentinischen Künstler Adrian Villar Rojas war es vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass im Folge des Kolonialismus auch heute noch ganze Länder – mitsamt ihrer Metropolen – als Hinterland von anderen funktionieren. Seine Heimat Argentinien zum Beispiel ist immer noch auf die Rolle als Rohstofflieferant für die Weltwirtschaft festgelegt: "Land in Argentinien bedeutet die agrotoxische Hyperproduktion von 70 Millionen Tonnen Soja im Jahr, die nach China exportiert werden". Und die Künstlerin und Theoretikerin Emily Segal markierte im Abschlussgespräch mit Rem Koolhaas und Niklas Maak den zweiten blinden Fleck der Stadt-Land-Diskussion: den Mythos von der rotwangigen Landfrau, die die prächtigen Produkte der Erde und sich selbst dem männlichen Blick darbietet, und deren Schufterei nicht als Arbeit in die soziologischen Theorien eingeht, weil sie reproduktiv ist.

Das Land in Zeiten der Digitalisierung, so das Fazit dieser Tagung, ist kein Gegenpol zur Stadt, sondern mit ihr untrennbar verwoben – es produziert wahlweise Rohstoffe oder Wellness, ist Projektionsfläche und Handlungsraum. Wie das funktioniert, konnte man gleich vor der Tür studieren, im verschneiten Engadiner Dorf, das schon seit über 100 Jahren Profi in der Inszenierung seiner selbst als touristische Kulisse ist, in dessen perfekt renovierten Häusern längst Galerien sitzen, Städter ihre Ferienwohnungen haben und wo Internatsschüler auf dem Weg zum Skilift Chinesisch miteinander plaudern.