Beobachtungen in Venedig

Im Zeitalter des Uploads

Auf der Kunstbiennale und auf dem Filmfestival Venedig denken Künstler über die Zukunft des Buches nach

Ach, Bücher. Ihre mediale Bedeutung schwindet, weil Texte und Bilder heute eher aufs Display geholt werden. Für den 1964 in China geborenen Künstler Liu Ye sind Bücher schon lange eine bedrohte Art, seine Eltern haben während der Kulturrevolution Bücher gesammelt, natürlich auch verbotene.

Im Zentralpavillon der aktuellen Venedig-Biennale sind Lius präzise abgemalte Bücher zu sehen. Aufgeschlagene Bücher, Umschläge, einzelne Seiten wie die Buchstabe für Buchstabe nachgemalte erste Seite einer Pariser "Lolita"-Ausgabe. Einen Raum weiter sind Graphitbilder des Rumänen Ciprian Muresan ausgestellt, der Motive von Giotto, Tiepolo oder Morandi aus Künstlermonografien und Museumskatalogen kreuz und quer auf große Blätter gezeichnet hat.

Für die Werke beider Künstler hat mich im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig "Ex Libris – The New York Public Library" des großen Dokumentarfilmers Frederick Wiseman sensibilisiert. Die dreistündige Hommage an die Bibliothek und ihre 92 Filialen ist keine Sekunde langweilig. Man merkt den Lectures, Talks und Vorstandssitzungen überhaupt nicht an, dass Wiseman und sein Team gewiss mit gigantischen Materialmengen in den Schneideraum gegangen sind. "Die NYPL", sagt Wiseman in Venedig, "repräsentiert die große demokratische Tradition, die Trump zerstören möchte."

Eigentlich, so erklärt es eine niederländische Fachfrau im Film, geht es bei Bibliotheken gar nicht um Bücher, sondern um Menschen. Es geht um Teilhabe am Wissen und, speziell in den USA, um den Kampf gegen die "Digital Darkness". Schätzungsweise bis zu 70 Millionen Amerikaner haben keinen Internetanschluss. Die NYPL verleiht auch mobile Router. Gutenberg würde sich die Augen reiben und – nach einigem Nachdenken über den Wandel der Zeiten bestimmt wohlwollend nicken. jh