In einem Hangar in Berlin-Tempelhof sitzt ein dunkelhäutiges Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, und redet über Langeweile. Die Flüchtlingsunterkunft verlassen? Darf sie nur in Begleitung der Eltern. "Es gibt so viele Verbote. Alle langweilen sich hier", sagt das Mädchen, das vergleichsweise wohl noch Glück gehabt hat. Sie ist dort, wo so viele andere mit dem Mut der Verzweiflung hinwollen, in Deutschland.
Seit 2015, angefangen mit einer Reise nach Lesbos, hat der chinesische Künstler Ai Weiwei 23 Länder bereist und – mithilfe von über 200 Mitarbeitern – eine Dokumentation über die Situation von Flüchtlingen gedreht, die bei den Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt wurde.
Mit Szenen aus der Ägäis beginnt und endet "Human Flow". Die erste Einstellung zeigt das blaue Meer aus extremer Höhe, dann schiebt sich ein Boot voller Menschen ins Bild. Unvermittelt wechselt die Perspektive in den Nahbereich. Menschen springen vom Boot ins seichte Wasser und ans rettende Ufer. Immer wieder rückt Ai Weiwei den Menschen und ihren Einzelschicksalen sehr nah. Die vielen Begegnungen auf Augenhöhe bilden das Herz des Films. Die Gespräche mit Betroffenen in Afghanistan, Gaza, im Irak, in Israel, im Libanon, in Serbien oder den USA geben dem Zuschauer oft das beklemmende Gefühl, dass er sich selbst in einer ähnlichen Lage befinden könnte. Ai Weiwei formuliert es in Venedig so: "Sie fürchten sich vor der Kälte wie ich. Sie möchten ebensowenig im Regen stehen oder hungrig sein. Wie ich brauchen sie das Gefühl von Sicherheit."
"Human Flow" ist der Versuch, zwei Jahre Flüchtlingskrise so umfassend wie möglich zu beleuchten. Neben den Migranten beschreiben Ärzte oder Mitglieder von Hilfsorganisationen die jeweilige Lage vor Ort. Reportagehafte Sequenzen zeigen den bedrückenden Flüchtlingsalltag, so erlebt man fast hautnah mit, wie schwierig sich die Überquerung eines kleinen Flusses in Nordgriechenland auf dem Weg zur mazedonischen Grenze gestaltet.
Für einen imponierenden Erzählfluss sorgte der dänische Cutter Niels Pagh Andersen (der schon Joshua Oppenheimers Dokus "The Act of Killing" und "The Look of Silence" montierte). Es waren über 1000 Stunden Material zu bewältigen. Durch distanzierende Bilder von Drohnenkameras werden dramatische, oft schwer erträgliche Szenen aus Camps und an stacheldrahtumzäunten Grenzen immer wieder ausbalanciert.
Aber "Human Flow" ist ohnehin kein Film, der schockieren will. Er ist von Empathie getragen und von spürbarer Bewunderung für die Entschlossenheit, sich zu einem besseren Leben aufzumachen.
Was mitunter stört, ist die Neigung des Künstlers zur Selbstdarstellung. Ai Weiwei ist eine Spur zu oft im Bild – als müsste er sein humanitäres Engagement für Menschen in Not extra unterstreichen. Für seine Anteilnahme spricht aber doch sein Film.
Die letzte Einstellung zeigt einen orangefarbenen Flickenteppich aus unzähligen Rettungswesten, aus großer Höhe aufgenommen. Es ist ein Bild wie ein Ready-made; diese und andere Quasi-Skulpturen verbinden den Film mit früheren Werken des Künstlers, der Marcel Duchamp immer wieder als Vorbild genannt hat.