Am Sommerloch kann es nicht liegen. Wenn einem nämlich gar nichts mehr einfällt, könnte man sich einfach noch einmal über die Documenta und die angebliche Unfähigkeit ihrer Kuratoren beschweren. Das geht schließlich nicht jedes Jahr. Umso erstaunlicher, dass gerade jetzt in der "NZZ" ein Text unter dem Titel "Das Ende einer Kunstgattung: Die Fotografie versinkt im Massengrab" erschienen ist. Eine Ansammlung von Kalendersprüchen für Kulturpessimisten.
Es funktioniert immer noch: Einfach etwas vom Ende von irgendwas behaupten – und alle so: Yeaahh! Wenn es um Fotografie geht, ist man sich offenbar besonders schnell einig, nickt zustimmend mit dem Kopf und denkt, jaja, stimmt schon, es wird zu viel fotografiert, mache ich auch, alles voller Bilder, braucht kein Mensch. Viel mehr stand auch im Text selbst nicht. Und trotzdem wurde der Beitrag wie verrückt zustimmend in den sozialen Medien geteilt, meist mit einem Zitat als einzigem Kommentar dazu: "Die Fotografie ist die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält." Oder: "Das fotografische Bild hat das Ausbreitungsverhalten von Viren." Und: "Fotografische Bilder sind ein Massenphänomen geworden. Ihr Vorkommen lässt sich längst nicht mehr numerisch beziffern, es hat die Form von weißem Rauschen." Besonders schön: "Die Fotografie ist tot, und das fotografische Bild, ob analog, ob digital, ist ein leerer Spiegel geworden. Wer in ihn blickt, blickt auf sich selber zurück." Es versteht sich von selbst: Der Roman ist tot, weil so viel per Kurznachrichten kommuniziert wird.
Eine Kunstgattung ist am Ende, weil das Medium auch als Mittel der Kommunikation eingesetzt wird? Das ist natürlich Unfug, der nicht weiter beachtet werden müsste, wenn nicht fast zeitgleich mit Blick auf das Digitale auch noch der Tod der Malerei heraufbeschworen worden wäre.
Kurz zum Hintergrund: Im Jahr 1888 malte Vincent van Gogh in Arles für seinen Freund Paul Gauguin Sonnenblumen, die das Zimmer des Besuchers verschönern sollten. Es sind nicht so viele Bilder geworden, wie ursprünglich von van Gogh angedacht und auch die Ateliergemeinschaft funktionierte bekanntlich nicht wie erhofft. Fünf der sechs erhaltenen Gemälde sind auf fünf Museen in der ganzen Welt verteilt – eins befindet sich in Privatbesitz – und werden wohl nie an einem Ort zu sehen sein. Deshalb haben sich die Museen entschlossen, sie in einen virtuellen Ausstellungsraum zu hängen und gemeinsam per "Facebook Live" Kuratoren ihre Geschichte erzählen zu lassen. Hashtag: #SunflowersLive.
Am Montag ging zuerst die National Gallery in London mit Christopher Riopelle live, es folgte das Van-Gogh-Museum in Amsterdam, die Neue Pinakothek in München, das Philadelphia Museum of Art und das Seiji Togo Memorial Sompo Japan Nipponkoa Museum of Art. Ein beachtlicher Staffellauf über drei Kontinente, der nach etwas über einer Stunde vorbei war. An der Übergabe des Staffelstabes musste man als Zuschauer gewissermaßen selbst mitwirken und sich nach den je 15 Minuten Vortrag von Facebook-Seite zu Facebook-Seite klicken. Viele der Anwesenden haben sich per Like oder Kommentar zu ihrem Standort bemerkbar gemacht – es war ein bisschen wie in der Uni. "Hallo! Ach, Du auch schon hier?!“"Nur war man eben nicht in einem Raum und der Dozent musste nicht allein vortragen, sondern durfte weitergeben.
Wenig überraschend sind nicht alle Kuratoren begnadete Redner und Moderatoren, die Technik hing gelegentlich, vielleicht hatte man auch nur selbst vergessen, den Livestream pünktlich anzuklicken, und Wiederholungen gab es auch. Das kennt man von Tagungen, wenn die Referenten höflich aufeinander Bezug nehmen, dann würde man zu gern vorspulen.
Jetzt weiß man außerdem, dass besonders Facebook und generell soziale Medien keine Feuilletonlieblinge sind. Ausnahmen gibt es: Wenn Cindy Sherman auf Instagram abhängt beispielsweise. Wenn es allerdings an die Aura des Kunstwerks geht, bitte, lassen, alles, was nicht direkt vor dem Original stattfindet.
In der "Süddeutschen Zeitung" war in der Vorankündigung zu lesen: "Nette Spielerei, fünf Museen auf drei Kontinenten virtuell zu besuchen. Aber ein 'echtes Erleben'? Unterläuft ein Museum nicht seinen Auftrag, den Menschen den Unterschied zwischen Original und Abbildung deutlich zu machen, wenn es einen Live-Stream - und mag er technisch noch so raffiniert sein - als Ersatz für den Besuch verkauft?" Unterschätzt man Menschen, die solch ein kunstvermittelndes Angebot wahrnehmen nicht gewaltig, wenn man ihnen nicht zutraut, zwischen Original und virtueller Abbildung unterscheiden zu können? Das Fazit von Kolja Reichert in der "FAZ" lautete ganz ähnlich: "Das beste Medium für Malerei aber ist die Malerei."
Vielleicht liegt hier ein Missverständnis vor. Die Kunstvermittlung im Digitalen ist so etwas wie die Kirsche auf der Sahne auf dem Eis. Niemand verkauft die Kirsche als Eis, ganz im Gegenteil, sie ist ein Plus. Ein Zusatzangebot, das man wahrnehmen kann oder nicht. Wer lieber nur das Eis isst, geht eben nur ins Museum, wer auch Sahne mag, geht vielleicht ab und an zusätzlich hin und hört sich Vorträge und Podiumsdiskussionen an, wer noch mehr möchte, nimmt die Kunstvermittlung im Digitalen mit. Sicherlich, es wird auch Menschen geben, die auf Eis und Sahne verzichten und sich mit der Kirsche begnügen, das ist auch okay, denn das ist besser als nichts – vielleicht kommt jemand über die Kirsche aufs Eis. Das wäre noch besser.