Seit über vier Jahren wohne ich in Hamburg und seit über vier Jahren gehe ich zu den Rundgängen der Hochschule für bildende Künste (HFBK). Die Kunst sieht jedes Jahr ein bisschen anders aus, mal ist sie besser, mal schlechter. Auf die Studenten ist auch immer Verlass. Es gibt welche, die sitzen schüchtern und verschämt in einem Raum mit ihrer Kunst, sie tippen gedankenverloren auf einem Smartphone herum oder schreiben andächtig in ein Notizbuch. Jedes Mal frage ich mich, was sie wohl aufschreiben, während sie dort sitzen und Menschen ihre Kunst angucken. Es muss sehr wichtig sein, wichtiger jedenfalls als die Menschen im Raum, denn sonst würden sie zumindest einmal den Kopf heben. Oder sogar ganz waghalsig das Gespräch über die eigene Kunst suchen.
Dann gibt es Studenten, die hängen vor dem Raum auf einem Sofa ab, in einer Position, die das Schlafen fast unmöglich macht, aber sie schlafen trotzdem. Und es gibt noch die Studenten, meist sind es zwei bis fünf, die die komplette Hochschule zuplakatieren. Dieses Jahr habe ich zwei gezählt. Eins der Plakate zeigt auf schwarzem Grund die Rückseite eines Smartphones, vielleicht auch nur eine Hülle für ein iPhone 6S. "Relics" und "Chris Drange" steht dort auf der Hülle und darunter in einem separaten Feld: Raum 253. Ein Pfeil zeigt nach links. Ich folge den Plakaten mit den Pfeilen, bis ich irgendwann im zweiten Stock in Raum 253 stehe. Eine junge Frau hängt Kopfhörer an die Wand, ich frage sie, wo Chris Drange ist. "Der hängt gerade seine Plakate in den Fluren auf", sagt sie. "Das ist schön", antworte ich ihr, "so war Raum 253 sehr einfach zu finden." Sie schaut mich an, als hätte ich zugegeben, dass ich gerne Pferdefleisch esse. Er komme sicher gleich wieder, lässt sie mich wissen. Ich warte.
Ein paar Minuten später kommt Chris Drange leicht verschwitzt zurück. In einer Stunde eröffnet offiziell die Absolventenausstellung. Er drückt mir ein kleines schwarzes Büchlein in die Hand, das kaum größer ist als ein Smartphone. Seine Abschlussarbeit "Relics" ist bei Hatje Cantz als Buch erschienen. Im Vorwort, 17 Zeilen, erklärt er, was er ein Jahr lang auf Instagram beobachtet hat, als er sich die Spitze genauer angesehen hat. Berühmte Frauen wie Kim Kardashian posten Selfies auf Instagram, Millionen von Menschen finden das toll. Im Buch stellt er dem Selfie eines Stars auf der rechten Seite jeweils ein Profilbild plus Kommentar eines Followers auf der linken Seite gegenüber. Für sein Projekt hat er Selena Gomez mit 123 Millionen Followern ausgewählt ...
... Kim Kardashian mit 101 Million Followern ...
... Ariana Grande mit 110 Millionen Followern ...
... Kylie Jenner mit 95,8 Millionen Followern ...
... Kendall Jenner mit 82,2 Millionen Followern ...
... Miley Cyrus mit 69,5 Millionen Followern ...
... und Gigi Hadid mit 35.1 Millionen Followern ...
Der Titel "Relics" verweist auf zwei Phänomene, schreibt er im Vorwort: "Erstens auf eine neue Form der Verehrung, in der Selfies zu digitalen Objekten der Anbetung und Smartphones zu 'Schein-Devices' werden. Und zweitens auf ein Frauenbild – im Spannungsfeld zwischen antiquierter Männervorstellung und moderner weiblicher Selbstbestimmung."
So ganz sicher ist er sich nicht, ob die Selfies von Gomez, Cyrus, Kardashian & Co. hauptsächlich für den Blick der Männer gemacht sind. Die meiste Zeit habe er im letzten Jahr nämlich damit zugebracht, sich durch die Kommentare zu arbeiten. "Männer wollen die Frauen haben, Mädchen wollen sein wie sie", sagt er. "We kinda look alike" hat ein Mädchen bei Selena Gomez kommentiert, "I wish to be you" ein anderes bei Ariana Grande. Oder "Body Goals!!", Küsschen. Und "Selfie goals". Wenn man Kim Kardashian auf Instagram folgt, hat man also plötzlich ganz viele Ziele im Leben. Selfies machen wie sie, einen Körper haben wie sie. Dann gibt es die üblichen Diskussionen um Schönheitsoperationen, hat sie nicht, hat sie. Nein! – Doch! – Oh!
Und Chris Drange hat natürlich die Profilbilder aus den Bilderfluten Instagrams herausgefischt, auf denen die Follower versuchen auszusehen wie ihr Star auf einem seiner Selfies – das Haar, das Make-up, die Pose. "Früher hat man sich von Reliquienverehrung Heilung versprochen. Heute haben wir aber keine Heilungsprobleme mehr, sondern eher ein Geltungsproblem. Bei Instagram lassen sich immer dieselben Muster der Verehrung beobachten", erklärt Drange.
Außer dem kurzen Vorwort findet sich kein weiterer Text im Buch. Er habe absichtlich auf einen kritischen Kommentar oder Essay verzichtet, erzählt er, seine Professoren wiederum haben diese Entscheidung kritisch kommentiert. Landet das Buch vielleicht am Ende als Geschenk unter dem Weihnachtsbaum? Oder bei Urban Outfitters? Dort also, wo eher keine namhafte Nachbarschaft zu erwarten ist, mit der man im Kunstbetrieb gesehen wollen werden würde. Drange stört dieser Gedanke nicht weiter.
Zwei Tage später eröffnet Walter Grasskamp an der HFBK das Symposium "Überlebensrate 4 Prozent – Aktuelle Frontberichte aus der Kunstakademie“. Es wurde einen Nachmittag darüber gesprochen, dass nur 4 Prozent aller Absolventen ihr Leben finanziell mit dem bestreiten können, was sie in ihrem Studium an der Hochschule gelernt haben. Klebt. Mehr. Plakate. Das denke ich, während ich in der etwas zu warmen Aula sitze. Macht. Mehr. Bücher. Die dann vielleicht bei Urban Outfitters verkauft werden. Na gut, vielleicht doch nicht. Das sollte nun nicht unbedingt das Ziel sein. Aber zumindest etwas mehr Ich-PR kann nicht schaden – was auch nicht unbedingt bedeuten muss, dass die Wände der Hochschule komplett zuplakatiert werden und die Besucher vor lauter Wegweisern gar nicht mehr wissen, wohin mit ihnen.
Wie gesagt, Drange macht sich keine Gedanken darüber, wer sein Buch wo kaufen könnte und zu welchem Anlass. Ihn verwundert etwas anderes. Der Vergleich mit Richard Prince. "Wie kommst Du jetzt auf Richard Prince?", fragt er mich, als ich ihn auf den amerikanischen Künstler und dessen "New Portraits" anspreche. Er denkt kurz nach: "Instagram ist mittlerweile ein Sujet wie Landschaft." Vielleicht ist es bisher doch eher noch das Selfie als Instagram an sich. Denn mit Selfies wird zielsicher Aufmerksamkeit erregt. Wenn beim Selfiemachen etwas schief läuft und Kunstwerke wie Dominosteine umfallen, lacht die ganze Welt. Wenn Richard Prince irgendetwas mit Selfies anstellt, diskutiert nicht nur die Kunstwelt. Und wenn Stars wie Kim Kardashian ein etwas zu aufreizendes Selfie posten, sind nicht nur die Fans aus dem Häuschen.
Auch bei diesem Buch von Chris Drange kann man sich vorstellen, dass zumindest die Fans verzückt sind, die es mit ihrem Idol auf eine Doppelseite geschafft haben. Drange derweil wünscht sich noch mehr Aufmerksamkeit: Das beste Marketingtool wäre, wenn Kim Kardashian ihn verklagt, weil er ihre Bilder verwendet hat. Warten wir es ab.