Es raunt und stöhnt, grunzt und zischt. Auf der Bühne sitzen die Künstler der Documenta 14 und die Verantwortlichen der größten Kunstausstellung der Welt. Bei der Voreröffnung am Donnerstag sind sie Teil einer Performance. Auch der künstlerische Leiter Adam Szymczyk und Geschäftsführerin Annette Kulenkampff gurgeln und glucksen mit.
Die Aktion ist gut gewählt, um eine Documenta in ein Bild zu fassen, bei der fast alles anders ist als bisher. Zum ersten Mal seit 1955 wird die Ausstellung nicht in Kassel, sondern an einem anderen Ort eröffnet: in Athen. Das Kuratorenteam, das nach der Performance zwei Stunden lang sein Konzept erläutert, versteht das als politisches Statement: raus aus der Kunst-Komfortzone Mitteleuropas hin zum krisengeschüttelten Rand des Kontinents.
Aber die eigenen Themen kommen mit. Freunde des 2006 in Kassel ermordeten NSU-Opfers Halit Yozgat treten beim Festakt ans Mikrofon und plädieren für eine Überwindung von Nationen und den Aufbau einer "Gesellschaft von Menschen".
Ist das Kunst? Für den aus Polen stammenden Kopf der Documenta 14 schon. Zum Programm gehören Musik und Tanz, Film und Debatten, Radiosendungen und Fernsehprogramme, politische Aktionen, Essen, Trinken, Spazierengehen und so viele Performances wie nie zuvor. Die ganze Stadt soll 100 Tage lang zur "sozialen Skulptur" werden.
Dem ortsunkundigen Kultur-Touristen fordert das einiges ab. Der Documenta-Stadtplan, der am Donnerstag verteilt wurde, listet 37 Schauplätze in Athen auf: vier großen Institutionen und massenhaft Off-Locations in allen Stadtteilen. Wer wann was wo macht in den nächsten 100 Tagen in Athen, muss der Besucher entweder vorher gründlich recherchieren - oder sich einfach treiben und überraschen lassen (Eine Liste mit den besten Lokalen, Bars, Läden und Hotels in Athen finden Sie hier). Schon am ersten Tag stellen die meisten fest: macht Spaß.
Im Hof des Konservatoriums stößt man auf die Installation "European Everything" des samischen Künstlers Joar Nango: ein improvisiertes Zeltlager, das auf Fellen und Decken, in Zelten und Unterständen zum Chillen einlädt, Live-Rap inclusive. Im Keller hat die türkischstämmige Nevin Aladag ein Orchester aus zu Instrumenten umgebauten Möbeln aufgebaut: Töpfe werden zu Trommeln, Stuhllehnen zu Geigen, Tische zu Xylophonen. Zwei Mal am Tag gibt's Konzerte.
Durch die Glasscheibe fällt der Blick auf einen haushohen Müllhaufen. Der aus Rumänien stammende Künstler Daniel Knorr hat Schrott auf den Straßen Athens gesammelt und presst ihn nun in einer roten Druckerpresse zwischen leere Buchdeckel - eine Archäologie der Gegenwart.
Im neu gebauten - aber aus Geldmangel noch nicht eröffneten - Museum für zeitgenössische Kunst empfangen Masken die Besucher. Beau Dick, ein indigener Kanadier aus dem Volk der Kwakwaka'wakw, hat sie nach Athen gebracht hat. Während der Documenta werden sie nach und nach abgeholt und von Angehörigen seines Stammes bei einer rituellen Zeremonie verbrannt.
Auch das ist typisch für vieles, was auf der Documenta 14 zu sehen ist: Was da im Museum steht, an der Wand hängt, im Konzertsaal erklingt, auf der Bühne oder Leinwand zu sehen ist, ist nicht das ganze Kunstwerk, es ist nur das optische Appetithäppchen.
Cecilia Vicuña aus Chile lässt knallrote baumdicke Stricke von der Decke baumeln. Sie hat dafür die Wolle griechischer Schafe eingefärbt und will diese am Ende der Documenta dem Meer als Opfergabe darbringen. Pavel Braila aus Moldawien stellt Kunstschnee als Kunstwerk aus: In Einmachgläsern hat er den Schnee aufbewahrt, der für viel Geld mit viel Energie für die Winterolympiade im warmen Sotschi hergestellt wurde.
Irena Haiduk produziert schwarze Einheitskleider und Schnürschuhe, deren Trägerinnen automatisch Teil einer "Armee der schönen Frauen" werden. "Yugoexport" heißt ihre Kunst-Firma, ihre Produkte sind in Athen die inoffizielle Uniform weiblicher Kuratorinnen.
Ok, für manches wünscht man sich einen Beipackzettel. Alte Schuhe in einer Vitrine, eine rote Säule, Fotos von Menschenmassen - beim bloßen Vorbeischlendern erschließt sich vieles nicht. Hin und wieder hängen aber auch ganz schlicht Bilder an der Wand. Im Dachgeschoss des Museums für zeitgenössische Kunst blicken die leuchtenden Farbflächen des abstrakten US-Malers Stanley Whitney direkt auf die Akropolis. "Von Athen lernen" war Szymczyks Motto für die Documenta 14. Unzählige Male ist er gefragt worden in den drei Jahren, in denen er die Ausstellung vorbereitet hat, was er damit meine. "Verlernen, was wir zu wissen glauben", sagt er zur Eröffung für das Fachpublikum in Athen, "ist ein guter Anfang".