Eine stark übergewichtige Frau tanzt. Der Speck schlabbert in Slow Motion, verschiedene nackte Mollige performen auf mehreren Videos – wir betrachten eine Kunstinstallation. In seinem zweiten Spielfilm führt uns Tom Ford in die Welt der Galeristin Susan. Museen, Ausstellungsbetrieb, Exploitation, Bling-Bling und Smalltalk: Ford ist mit diesen Dingen gut vertraut, er war und ist Modeschöpfer. Seit seinem Debüt mit "A Single Man" arbeitet er auch als Filmregisseur. Eine ungewöhnliche Kombination. Doch Fords zweites Standbein ist ein Glücksfall, das zeigt sich spätestens mit "Nocturnal Animals", der mit einem vertrackt-düsteren Plot aufwartet.
Susan (Amy Adams) bekommt in ihrem Luxusanwesen in Los Angeles Post von ihrem Ex, den sie seit Jahren nicht gesehen hat: Edward (Jake Gyllenhaal) will seinen neuen Roman Susan widmen, und die soll das Manuskript vorab lesen. Kurze Rückblenden rekapitulieren eine unglücklich verlaufende Beziehung. Ein dritter Strang zeigt die fiktive Geschichte, die Susan liest: Tony (wieder Gyllenhaal) wird mit Frau und Tochter auf einem abgelegenen texanischen Highway von skrupellosen Psychopathen überfallen. Susan gerät in den Sog dieses ihr gewidmeten Buchs. Wie auch der Zuschauer natürlich mit Tony und seiner Familie bangt.
"Nocturnal Animals" ist nicht zuletzt eine düstere Variante der paranoiden Mindgame-Movies seit den 90ern ("Die üblichen Verdächtigen" und andere Filme), einem Genre voller unzuverlässiger Erzähler. Es geht um brüchige Realitäten, um Storys, die sich zumindest partiell im Kopf einer Filmfigur abspielen. Bei "Nocturnal Animals" stellt sich irgendwann die Frage, wer den Film im Film überhaupt erzählt: wohl nicht nur Edward, der Autor, sondern auch Susan, die sich ja selbst ein Bild von den Romanfiguren machen muss. Warum stellt sie sich Edward in der Rolle von Tony vor? Warum sieht die (von Isla Fisher gespielte) Ehefrau Tonys der Leserin Susan so verdammt ähnlich? Warum imaginieren wir uns eine Lektüre so und nicht anders? Die Antwort: Weil es keine Texte außerhalb unseres Kopfes gibt – außer den ungelesenen. Du bist, was du liest.
Die beiden Welten, die Tom Ford gegeneinander stellt, verhalten sich in etwa zueinander wie Dorian Gray und sein Bildnis (in Oscar Wildes berühmter Novelle über ein Gemälde, das die Verderbtheit des äußerlich makellos bleibenden Porträtierten zeigt). Susan kommt weitgehend ohne Emotionen aus, ihr Leben ist zur ansehnlichen Fassade erstarrt. Ihre Nachtlektüre dagegen füllt sich mit Grauen, Verwesung, Ekel – mit Dingen, die Susan aus ihrem reibungslosen Alltag erfolgreich verdrängt zu haben glaubt.
Aber so einfach, wie sich das jetzt hinschreibt, machen es Tom Ford und seine glänzenden Darsteller dem deutungshungrigen Zuschauer nicht. Eindeutigkeiten lässt der Film nicht zu. Eher das Gefühl, über einem Abgrund zu baumeln, in dem tief unten die Lebenslügen und Fehlentscheidungen mit scharfen Zähnen lauern.
Erst spät dämmert der Leserin, welche Rolle sie eigentlich in dieser Horrorstory spielen könnte. "Nocturnal Animals" ist ein fesselnder Film über die Tag- und Nachtseiten menschlicher Existenz – und über den Abgrund des Erzählens. Ohne die gekonnt zwischen Gefühlsarmut und Betroffenheit schwankende Amy Adams würde der Film nicht so gut funktionieren. Was soll man Susan, die am Ende vor einer bitteren Erkenntnis steht, wünschen? Vielleicht sollte in manchen Büchern ein Beipackzettel stecken, eine Warnung vor Risiken und Nebenwirkungen der Lektüre.