Hass scheint ein gutes Gefühl zu sein, wenn einem sonst nichts mehr einfällt, wenn sich die Wut lange angestaut hat und wenn auf Vernunft und Argumente niemand mehr reagiert. Und wenn es ganz blöd läuft, ist man plötzlich US-Präsident. Hassen lässt sich alles Mögliche, das Establishment, "Gutmenschen", Political Correctness. Weniger radikal und dumm ist es derweil, die Kunst zu hassen. Nicole Zepter hat darüber ein Buch geschrieben, der Satiriker Leo Fischer nimmt sich selbst nicht ganz so ernst und lässt sich seit neuestem mit sarkastischer Wut als "Der Kunsthasser" in einer Kolumne im art Magazin aus. Das ist gut und bösartig, er ist beides zugleich und ironisch und schadenfroh, aber nie so, dass man denkt, er scharre infernalisch lachend mit den Hufen. Braucht die Kunstkritik das überhaupt – Humor? Oder braucht sie nur einfach wieder und noch mehr Urteile, Argumente, Analysen, Beschreibungen, Theorien, Methoden, damit nicht weiter und alle Jahre wieder von ihrem Elend gesprochen wird?
Ein Symposium in Frankfurt hat sich dieser Tage unter dem Titel "Newsflash Kunstkritik" mit der Frage beschäftigt, welche neue Herausforderungen die digitale Vernetzung und Verbreitung an die Kunstkritik stellen. Veranstalter war der Promotionsbereich der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Vorgetragen haben Kunstwissenschaftler, freie Autoren, Doktoranden, Blogger und Redakteure, darunter Noemi Smolik, Jörg Scheller, Kerstin Stakemeier und Kolja Reichert.
Worum es dann tatsächlich kaum ging: um die Praxis der Kunstkritik, um prekäre Arbeitsbedingungen, um Native Advertising, kurz: ums Überleben. Zwei lange Konferenztage musste man auf einen Vortrag warten, der die Realität nicht ausblendete. Kolja Reichert, Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sprach über die Machtlosigkeit der Kunstkritik, als ginge es um Verspätungsmeldungen der Deutschen Bahn. Weiß jeder, kennt jeder, kann man nichts machen. Kann und muss man aber auch einfach mal sagen, dass die Kunstkritik keine Macht mehr hat, dass in den Redaktionen das Geld für investigative Recherchen fehlt, dass die breiteste Berichterstattung bekommt, wer am meisten Kunstkritiker einfliegen lassen kann. Seine Vorredner bauten klug Theorieschlösser, wandelten darin mit Schiller, Nietzsche, Benjamin und Adorno umher und wiesen auf Fallen und Stolpersteine hin. Wie Noemi Smolik, die einen dieser Stolpersteine nach Duchamp benannte und unter anderem als Rat mit auf den Weg gab, man solle Ausschau nach dem Unvorhersehbaren halten, besonders heute, wo nichts mehr nach Kunst aussehe, aber alles Kunst sein könne. Stichwort Post-Internet-Art, Schauplatz Berlin Biennale 9.
Smolik bietet seit Jahren Werkstätten für Kunstkritik an, inzwischen heißt das Veranstaltungsformat für den kunstkritischen Nachwuchs Labor. Namhafte Kunstkritiker wie Julia Voss, Hanno Rauterberg und Jörg Heiser werden eingeladen, um über ihre Kriterien und Methoden zu sprechen. Immer wieder, so Smolik, würden ihre Gäste durch ihr Herumreden faszinieren, über die eigenen Kriterien würde niemand so recht sprechen.
Hilft all das Reden über Kriterien und Methoden überhaupt noch? Denn was tun, wenn traditionelle gegen soziale Medien antreten, wenn Argumente und Urteile gar nicht mehr so sehr gefragt sind, weil ein Like reicht? Was macht die Kritik, wenn das Kriterium für Kunst und Ausstellung lautet: Instagrammable muss es sein, dringend, ganz unbedingt? Was machen die Redaktionen, wenn Museen und Ausstellungshäuser über ihre Social-Media-Kanäle, Blogs und Online Magazine dauersenden und PR-Strategien kaum mehr von redaktionellen Inhalten unterschieden werden können?
Zahlreiche Probleme wurden in den zwei Tagen in Frankfurt benannt, und die sozialen Medien als Kontrahent mit durchaus auch positiven Eigenschaften thematisiert. Soziale Medien würden helfen, Kunst einem breiten Publikum zugänglich zu machen, sie erreichen ein ganz neues Publikum, sie bieten Plattformen, um Kunst zu produzieren. Durch die sozialen Medien breche "eine Flut von Meinungen" (Jörg Scheller) über uns herein, die Empfänger von Inhalten können aber auch deren Sender werden, sofern retweetet, rebloggt und geteilt wird, und folglich zu deren Verbreitung beitragen. Kunstkritik werde zum Kommunikationsmedium stellte Ismene Wyss fest – durch die Kultur des Likens und Kommentierens. Aber ist ein Like oder ein Kommentar à la "Beautiful", "Interesting", "Ist das Kunst oder kann das weg?" als Reaktion auf das Posting eines Museums auf Facebook oder Instagram tatsächlich eine kunstkritische Aussage, wie Wyss meint? Viel mehr passiert nämlich selten in den Kommentarbereichen der Museen. Die Tate beispielsweise bespielt verschiedene Formate auf Instagram.
Ein paar davon sind: #artword, ein Begriff aus der Kunstgeschichte wird erklärt, #workoftheweek, ein Kunstwerk wird erläutert, #tateweather, ein Kunstwerk wird passend zum Wetter geteilt, #didyouknow, eine Hintergrundinformation zu einem Werk wird geliefert, #tatedebate, eine Frage wird an die Follower gerichtet. Kürzlich etwa: "Spiegelt deine Persönlichkeit online wieder, wer Du wirklich bist?" ("Is your online persona reflective of who you really are?") Die Reaktionen unter anderem: "totally." "Mine is ... I think." "In my case absolutely." "No." "Yes." "Silly question." "Great topic." "Important discussion." Viele einsilbige Antworten also und schnell hingeworfene Meinungsäußerungen, elaboriertere Aussagen gab es natürlich auch, aber deshalb muss man die sozialen Medien nicht gleich – so die These von Ismene Wyss – ein Tool der Kunstkritik nennen. Das sind kunstvermittelnde Ansätze und Marketingmaßnahmen, die auch auf Reichweite abzielen – Fragen treiben bekanntlich die Interaktion in die Höhe.
Ein Tool sozialer Netzwerke ist die Fotografie. Den klassischen installation shot, der Verwendung in der Kunstberichterstattung findet, stellte Yvonne Schweizer der Amateurfotografie in den sozialen Medien gegenüber. Heute könne der von Fotografen produzierte installation shot als Distinktionsmerkmal dienen, als Mittel, um sich gegen die "billigen Schnappschüsse" der Besucher zu positionieren. Ist das tatsächlich ein wünschenswertes Ziel oder muss von Redaktionen nicht vielmehr überlegt werden, wie die eigenen Inhalte in den sozialen Medien kommuniziert werden können, wie live von Pressekonferenzen und Vernissagen auf Instagram und Snapchat berichtet werden kann? Muss der Kunstkritiker vergleichbar dem Fotografen heute nicht auch zum Storyteller und Content Creator für die sozialen Medien werden? Maria Männig zeigte Beispiele für ausstellungsbegleitende Formate auf Snapchat.
Über die sozialen Medien wurde zwar gesprochen, damit zu tun haben wollte man aber lieber doch nichts. Wie die digitale Vernetzung neue Herausforderungen an Symposien stellt, wurde nicht weiter bedacht. Es gab kein offizielles Hashtag zur Tagung, keinen Live-Stream, keine Dokumentation auf Instagram & Co, keine Twitterwall und kein WLAN. Man muss sich ja nicht immer mitreißen lassen von der Flut der Meinungen, einstimmen, dagegenreden, begeistert oder unentschieden sein, aber wenn man über digitale Vernetzung sprechen will, könnte man zumindest vor Ort digital vernetzt sein. Tagungsort war der Frankfurter Kunstverein, einer der Räume im obersten Stockwerk des Gebäudes am Römer, in dem gerade die erste große institutionelle Ausstellung des belgisch/algerischen Künstlers Eric van Hove unter dem Titel "Atchilihtallah – Von der Transformation der Dinge" zu sehen ist. Man saß also zwei Tage lang im White Cube, getrennt von allem anderen, autonom und debattierte bisweilen, als ginge es nur darum, wieder und wieder und wieder oder endlich einmal in "Texte zur Kunst" zu erscheinen.
Wenige Stunden nach Abschluss der Tagung trafen sich Menschen in der Kunstinstitution gegenüber zur #mannequinchallenge. Stillstehen, nicht zwinkern, so tun als sei man eine Schaufensterpuppe, filmen lassen, Video posten. Das ist die #mannequinchallenge. Am Wahltag twitterte Hillary Clinton ihre Version, gedreht am Bord eines Flugzeugs, in den Hauptrollen Jon Bon Jovi und ihr Mann Bill Clinton.
Man könnte es auch ein tableau vivant nennen. In Frankfurt hatte jedenfalls die Schirn Kunsthalle zur #mannequinchallenge geladen. Man traf sich im Foyer, circa 40 Leute waren gekommen, man ging zusammen in den ersten Raum der Ausstellung "Giacometti–Nauman", darin ein paar Giacomettis, verteilte sich, stand still, ließ sich filmen, ging wieder nach Hause. Wer noch vor Ort postete, war plötzlich ganz allein in der Ausstellung. Gekommen, um Kunst anzusehen, war niemand. Im Zeitalter der Selbstzuwendung, so während seines Vortrags Kolja Reichert, schlage die Vorstellung von Kunst Funken. Die kleinste Einheit sei längst nicht mehr das Werk, sondern das Ereignis, für das Werke produziert werden. Deshalb werde man auch gerne mal zum kostenlosen Statisten einer Markenkampagne wie die Anwesenden beim Videodreh zu "Picasso Baby" von Jay-Z in der New Yorker Pace Gallery. Oder eben wie die Teilnehmer der #schirnmannequinchallenge.
Und was bleibt der Kunstkritik, wenn alle nur noch senden, auf Twitter, Facebook und Instagram, wenn man selbst, um Präsident zu werden, nur noch senden muss? Kolja Reichert sagte: genau hinsehen, sich fragen, ob etwas gut gemacht ist oder nicht. Und manchmal hilft sicherlich auch Humor. Denn Leo Fischer liegt nicht so falsch, wenn er als Kunsthasser schreibt: "Ulay? Wer war das gleich noch mal? So fragen sich dieser Tage viele Frankfurter." An der Kasse der Schirn war eine ältere Dame tatsächlich ratlos: "Ulay, ist das was für's Gesicht?"