Alte Meister, immer geliebt

"Kruzifix noch einmal!"

Jens Hinrichsen entdeckt das schönste Bild von Danzig

"Nichts auf dieser Welt ist viraler als ein gekreuzigter Jesus ... und das schon für so lange Zeit", sagt Maurizio Cattelan im Monopol-Interview in der Novemberausgabe. "Das sei absoluter Rekord" fügt der Künster hinzu. Richtig: Immer noch ist das Kreuz ein global immens verbreitetes Zeichen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es den Menschen noch viel bedeutet – in meinem Umfeld jedenfalls ist der Kruzifix zum abstrakten Zeichen geworden.

Zurzeit bin ich in Polen unterwegs, da ist es anders. An jeder zweiten Straßenkreuzung steht eine Heiligenfigur hinter Glas, überall sieht man Kreuze, sogar in Fischerbooten. In den Kirchen von Danzig prallen Welten aufeinander: Touristen wie ich, die das Interieur bewundern und Einheimische, die zum Beten kommen.

In der Marienkirche hängt eine (eher lausige) Replik des bedeutendsten Kunstschatzes der Stadt. Im Nationalmuseum von Danzig kann man das Altarbild "Das jüngste Gericht", bis 1465 von Hans Memling gemalt, im Original betrachten. Ein Bild zum Niederknien. Vom Martyrium Jesu sind nur noch die Spuren zu sehen, die Wundmale, nicht aber sein Kreuz. Jesus thront auf einem Regenbogen, seine Füße ruhen auf einer goldenen Kugel, die im Himmel schwebt. Wie auf dem ähnlichen Altar, den sein Lehrer Rogier van der Weyden schuf, hat Memling auch Erzengel Michael mit der Waage und den Einzug der Geretteten in das Himmlische Jerusalem gemalt. Auf der gegenüberliegenden Seitentafel: die Verdammten im Höllenfeuer.

Oberflächlich betrachtet wirkt das Triptychon sehr kirchentreu. Man stößt aber auf ungewöhnliche Details. Ob sie zum Himmelstor schreiten oder in die Hölle hinabstürzen, der Maler hat den Figuren sehr ausdrucksvolle Gesichter gegeben. Das sind keine Statisten, sondern realistisch gemalte Zeitgenossen Memlings. Auf der Mitteltafel sieht es so aus, als kröchen einige "Verdammte" aus Erdlöchern ins Freie, als gebe es einen Weg aus der Hölle. Das Weltbild, das aus diesem Kunstwerk spricht, scheint weniger starr als vermutet.

Wie das in Brügge gemalte, für Florenz bestimmte Werk nach Danzig kam, liest sich wie ein Krimi. Auf dem Seeweg nach Italien wurde es vom Danziger Freibeuter Paul Benecke gekidnappt. Das Gemälde wurde zwischenzeitlich auch nach Paris und Berlin verschleppt, kehrte aber 1817 endgültig nach Danzig zurück. An seinen ursprünglichen Bestimmungsort, die Badia-Fiesolana-Kirche nahe Florenz, kam es nie. Gläubige oder Atheisten, die ins heutige Gdansk reisen, müssen es gesehen haben.