Was wäre die im öffentlichen Raum entstehende Street Photography ohne ihre Spontaneität, ihre Authentizität, ihre Wahrheit? Müsste von jeder abgebildeten Person zuerst eine Einwilligung eingeholt werden, ginge der Reiz, die Situation des Augenblicks, der "entscheidende Moment" (Henri Cartier-Bresson) komplett verloren. Doch wie sieht es mit dem Recht der fotografierten Person aus?
Mit diesen Streitfragen müssen sich Fotografen, Journalisten, Anwälte und Gerichte vermehrt beschäftigen. Ein Fall, der mittlerweile als paradigmatisch gilt, fand seinen Anfang vor drei Jahren, als der Berliner Street Photographer Espen Eichhöfer, Mitglied der Agentur Ostkreuz, eine Frau in der Nähe vom Bahnhof Zoo ohne ihr Wissen fotografierte. Die Dame in Pelz erkannte sich daraufhin auf einer Stele vor dem Fotografie-Ausstellungshaus C/O Berlin als Teil einer Schau wieder und klagte auf Schmerzensgeld, da sie ihr Persönlichkeitsrecht verletzt sah.
Sowohl das Land- als auch das Kammergericht Berlin kamen zum Entschluss, dass ein Verstoß gegen das Recht am eigenen Bild aufgrund von Verletzung der Privatsphäre vorliege, wenn die Instanzen ihr auch keinen Schadensersatz zusprachen. Eichhöfer, der folglich eine Unterlassungserklärung unterschreiben musste, reichte daraufhin Beschwerde beim Verfassungsgericht ein, die dort seit einem Jahr auf Bearbeitung wartet.
Dieser Fall ist offenbar keine Seltenheit. In Zeiten von Facebook, Instagram & Co., in denen eine noch nie dagewesene Menge an Fotos tagtäglich frei und unkontrollierbar in die globale Öffentlichkeit gerät, steigt die Verletzungsanfälligkeit. Dabei gilt bereits seit dem Jahre 1907 nach Paragraph 22 des Kunsturhebergesetzes, dass Bildnisse einer Person nur mit deren Einwilligung verbreitet werden dürfen, es sei denn, "deren Verbreitung oder Schaustellung diene einem höheren Interesse der Kunst". Und was genau Kunst ist und darf, darüber wird bekanntlich schon seit deren Existenz gerne gestritten.
Doch was bedeutet dies für die Zukunft der Street Photography? Wann fängt das Persönlichkeitsrecht an und wann hört die Kunstfreiheit auf?
Vergangene Woche versuchten der Schweizer Fotograf und Installationskünstler Beat Streuli, ein bekannter Vertreter der Street Photography, Reto Klar, Bildredakteur der "Berliner Morgenpost", die EU-Politikerin Julia Reda sowie die Rechtsanwälte Christian Czychowski und Sebastian Graalfs im ehemaligen Amerikahaus mögliche Antworten auf diese Fragen zu finden. Moderiert wurde die Veranstaltung von Friedrich Tietjen, der zu Beginn der Diskussion die beiden Gesichtspunkte "Freiheit, Bilder machen und verwenden zu dürfen" und die "Freiheit, keine Bilder ungefragt von sich machen zu lassen", sprich: das Recht am eigenen Bild, gegenüberstellt.
Reto Klar, aus journalistischer Sicht argumentierend, stellt eine starke Veränderung innerhalb der Fotografie der letzten Jahre fest. Der Bildredakteur, der selbst "mehrmals schon Post vom Anwalt bekommen" hat, sieht durch die jüngsten Ereignisse die Freiheit des Künstlers und des Journalisten eingeschränkt. Es sei verständlich, "dass jeder das Recht am eigenen Bild hat, das Problem ist allerdings, dass wahnsinnig viel verloren geht."
Um die Kunstfreiheit fürchtet auch Beat Streuli. Die sogenannte "Schere im Kopf" führe dazu, dass Künstler sich nicht mehr frei äußern dürften. Es müsse dringend gehandelt werden.
Rechtsanwalt Sebastian Graalfs, der die Interessen von Espen Eichhöfer im bereits genannten Fall vor Gericht vertritt, räumt ein, dass es für die einzelnen Fälle dieser Art keine Gesetzmäßigkeit gebe, sondern abhängig seien von Abwägungskriterien, "über die man manchmal einfach nur den Kopf schütteln kann". Auch wenn das besagte Foto Teil einer Ausstellung war, also einem höheren Interesse der Kunst diente, überwog letztendlich das Argument der Persönlichkeitsrechtsverletzung und beschnitt somit die Kunstfreiheit.
Graalfs könne – wie Klar – nachvollziehen, dass jedem das Recht am eigenen Bild unbedingt zustehen müsse. Besonders in der heutigen Zeit habe der Bürger Angst vor Überwachung. Das Internet sammle tagtäglich hochsensible Nutzerdaten, die es ermöglichen, jeden Schritt eines Users nachvollziehen zu können. Graalfs sieht im heutigen Umgang mit den neuen Medien eine Schizophrenie: Einerseits gebe es "Menschen, die die ganze Zeit Selfies posten", andererseits "Menschen, die genau eben das nicht wollen", die sich nicht gerne auf Fotos wiedererkennen möchten – "aus Sicht der Eitelkeit", so Graalfs.
Streuli gibt an dieser Stelle zu bedenken, dass das Problem bereits da beginne, dass selbst die Eitelkeit einer einzelnen Person in diesem Fall heutzutage eine Rolle spielen dürfe, so waren doch Persönlichkeitsrechte im Fotojournalismus lange wenig wert. Streuli appelliert an kulturelle Institutionen und Politiker, sich zusammenzuschließen, um einen Standard zu schaffen sowie ein Zeichen zu setzen, "dass es so nicht weitergehen kann".
Christian Czychowski geht den Anfängen der Konflikte auf den Grund – dem soziologischen Aspekt. "Wie kommunizieren wir miteinander?", fragte der Anwalt für Urheber- und Medienrecht und wies darauf hin, dass die Hemmschwellen innerhalb der Gesellschaft vermehrt fielen. "Wenn wir es hinbekommen würden, dass wir wieder etwas gesitteter miteinander reden, dann ist es vielleicht auch einfacher für die Street Photography." Dann hätte vielleicht in einem Großteil der Fälle eine außergerichtliche Einigung erlangt werden können. Dann hätte sich diese Diskussion und die existentielle Frage über die Zukunft der Street Photography vielleicht erübrigt …
Die Interessen müssten ausgeglichen werden, so Czychowski. Einerseits müsse man für den Einzelnen Verständnis zeigen, andererseits dürfe die Kunst aber auch nicht beschnitten werden. Er habe allerdings noch keine Antwort darauf, "wo genau diese Schwelle liegt."
Auch wenn an diesem Abend keine "Lösung" erzielt werden konnte, die Diskussion an so mancher Stelle abschweifte und abrupt zum Ende geführt wurde: Auf dem Podium ist man sich zumindest einig.