Im Frühling 1989 hatte Xu Yong gerade seinen Job bei einer staatlichen Werbeagentur gekündigt – die Zeit schien günstig, um frei zu arbeiten. Als plötzlich die Studenten Pekings Straßen fluteten und mehr Freiheiten verlangten, war er mit der Kamera dabei. Sechs Wochen lang dokumentierte er das, was rund um den Tian’anmen-Platz passierte – bis zur blutigen Niederschlagung der Bewegung.
Xu Yong hat seitdem mehr als 20 Fotobücher veröffentlicht, bekannt wurden unter anderem seine atmosphärisch dichten Dokumentationen des alten Pekings vor der Modernisierung aus den 80er-Jahren. Doch die Bilder vom Tian’anmen-Platz blieben im Archiv – bis er sie 2014 über einen Verlag in Hongkong herausbrachte. "Negatives" hieß die Veröffentlichung: Abgebildet sind die analogen Negative, die er damals mit seiner Konica aufnahm. Der Effekt ist geisterhaft – und vielleicht auch eine Schutzmaßnahme gegen die Zensur. Denn mit einem entsprechenden Filter auf dem Smartphone oder am Rechner kann man mit einem Klick aus dem Negativ das Positiv machen.
Die Bilder aus "Negatives" sind also wie mit einem einfachen Verschlüsselungscode versehen: Wer sie mit dem Smartphone umkehrt, blickt plötzlich offen in die Gesichter der Protestierenden von damals, darunter nicht wenige Intellektuelle und Künstlerkollegen, und auch die Gesichter der jungen Soldaten brennen sich plötzlich in die Netzhaut ein. Das Massaker am 4. Juni, bei dem Hunderte oder sogar Tausende starben, ist nicht mehr mit abgebildet: Am Ende der Serie steht die Fotografie eines Panzers, was danach kam, ist der Imagination überlassen.
In China konnte Xu Yong sein Buch nicht vertreiben, und auch die fürs Ausland gedachten Exemplare wurden zu einem Großteil vom chinesischen Zoll vernichtet. Der Dortmunder Verlag Kettler hat das Buch im Juni neu veröffentlicht, um es international zugänglich zu machen. Und zur DC Open ist die Serie in der Kölner Galerie Julian Sander zu sehen.