Der Direktor des Victoria and Albert Museum London, Martin Roth, erwartet bei einem EU-Ausstieg Großbritanniens negative Folgen für Kultur und Wissenschaft. "Ich kann mir vorstellen, dass Berlin deutlich an Bedeutung gewinnt, wenn London an Einfluss verliert", sagte er im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur unter Verweis auf die attraktive Kreativwirtschaft, die sich einen neuen Standort suchen werde.
Was steckt aus Ihrer Sicht hinter dem Wunsch nach "Brexit"?
Ich bezweifle, dass die Briten den Meinungsmischmasch selbst verstehen. Man will sich von diesem uneinigen Europa der Krisen, der Nationalisten, der Rechtsradikalen distanzieren. Gleichzeitig besinnt man sich auf seine Internationalität und sieht die Zukunft im Handel mit der gesamten Welt - gleichsam zurück zu den guten Zeiten des Commonwealth. Wenn ich über Europa rede, meine ich Musik und Philosophie, Kunst und Wissenschaft, Sport und Sprachen. Wenn meine englischen Freunde Europa sagen, meinen sie Handel und Wirtschaft, und bisweilen Verteidigung.
Wie ist die Stimmung vor dem Referendum auf der Insel?
Es gibt durchaus eine Immigrationsdebatte, aber man darf nie vergessen, dass die Gesellschaft hier kosmopolitischer und internationaler ist als der Rest Europas, London ist in vielerlei Hinsicht die Hauptstadt der Welt, Europa ist vielen zu klein. Es ist paradox und schwer zu verstehen, aber man möchte mit der Welt nicht durch das Nadelöhr Europa verbunden sein. Möglicherweise scheut man auch den Wettbewerb mit Deutschland und Frankreich.
Spielt das Für und Wider im Kulturbetrieb auch eine Rolle?
Kunst und Kultur sind in der Regel tolerant und weltoffen. Das Ausmaß der Katastrophe wird sich erst in der Zukunft zeigen. Aber alleine die Europa-Budgets, die in die Forschung fließen, werden deutlich vermisst werden.
Welche Folgen hätte der "Brexit" für die Kultur des Landes und für Europa?
Die Insel wird nicht nach USA oder Australien wegtreiben. England ist und bleibt ein zentraler Bestandteil der europäischen Geschichte und Kultur - was immer auch passieren mag. Unsere vier Millionen Besucher im V&A kommen zu keinem geringen Teil vom europäischen Festland. Werden diese auch weiterhin loyal nach London reisen? Was wird aus der weltberühmten Creative Industry? Ich kann mir vorstellen, dass Berlin deutlich gewinnt, wenn London verliert! Und ansonsten wird die Trennungsphase lange anhalten, ehe die Scheidung wirkungskräftig ist - und es wird teuer, vor allem für die Bevölkerung der Insel.
ZUR PERSON: Martin Roth (61) zählt zu den wichtigsten deutschen Museumschefs. Von 1991 bis 2001 war der Schwabe Direktor des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, 2001 bis 2011 Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und von 1995 bis 2003 auch Chef des Deutschen Museumsbundes. Seit Herbst 2011 leitet er das Victoria and Albert Museum in London. Er war der erste Deutsche an der Spitze eines britischen Topmuseums.