Das Selfie, es war noch nie cool und gern gesehen. Selfies sind so etwas wie der Gartenzwerg in den sozialen Medien. Gartenzwerge gibt es nur in Kleingärten und Selfies gibt es nur dank Smartphones und sozialer Netzwerke. Auch wenn gern mal nach dem Ur-Selfie gefahndet wird. Um 1500 bei Albrecht Dürer beispielsweise, der sich jesusgleich in Szene setzte und damit sein Image pflegte, wie es heute jeder Teenager in den sozialen Medien tut, der von sich selbst glaubt eine Marke zu sein, die es zu stärken gilt. Nur eben ohne Imitatio Christi, dafür mit Duckface wie es Kim Kardashian hundertfach vorgemacht hat. Ein Selfie ist ein Selbstporträt ist ein Selfie. So lautet die Gleichung meist. Unterschieden wird kaum mehr, ob das Bild einer Person in einer kommunikativen Situation entstanden ist und nur für den kurzen Moment des Chats über WhatsApp, Snapchat oder in einem beliebigen Messenger Gültigkeit besitzen will. "Ich bin hier! Wo bist Du?" "Gestern Nacht wieder zu viel von allem. #drunkface" Oder ob es geschaffen wurde, damit sich auch nachfolgende Generationen noch ein Bild vom Künstler und seiner Gefühlslage machen können.
Außerdem machen Selfies nur die Leute, die wie Kim Kardashian zu lang und zu oft in den Spiegel schauen und eine zu innige Beziehung zu ihrem Ego haben. So das gängige Vorurteil. Überhaupt muss Kim Kardashian immer herhalten, wenn es um das Thema Selfie geht. Mal ist sie die einzig wahre Nachfolgerin der Ikone Andy Warhol, ja, ist sie selbst eine Ikone der Pop-Kultur, mal wird sie ganz abgeschrieben: Zu selbstverliebt, zu geschmacklos, einfach nur peinlich. Und weil es Kim Kardashian und die Kunst der Selbstvermarktung mittels besonders vieler Selfies gibt, machen besonders wenige Künstler, eigentlich gar keine Selfies.
Alle machen Selfies, nur eben Künstler nicht, denn die wollen schließlich nicht wie alle sein. So in etwa lautet die These zur Ausstellung "Ich" in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main. Während der Pressekonferenz spricht Direktor Max Hollein über die Beeindruckungskultur, deren Symptom die allgegenwärtige Selbstinszenierung sei. Künstlerinnen und Künstler würden dieser Beeindruckungskultur entgegentreten und hätten deshalb unorthodoxe, spielerische und humorvolle Strategien entwickelt, "um die Überkodierung des menschlichen Abbilds in unserer Mediengesellschaft zu hinterfragen", steht in der Pressemitteilung geschrieben. Und hier ist es, das vielleicht einzige Problem dieser Ausstellung, die 40 internationale Positionen von zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen in verschiedenen Medien präsentiert. Denn eigentlich ist es eine Überblicksschau über das künstlerische Selbstporträt von 1960 bis heute. Eine sehr gute noch dazu, die ohne das Schielen nach dem Selfie und der Rede von künstlerischen Gegenpositionen viel besser funktioniert.
Haben Künstler nicht ganz andere Sorgen als das Selfie, das nun wirklich keinem weh tut? Und das ganz im Gegenteil auch noch geschickt zur Selbstvermarktung oder für ironische Spielereien genutzt wird. Allen voran vom Vorzeige Selfie-Man Ai Weiwei. Von Stephen Shore, der auf Instagram sowieso einfach macht, was alle machen, also gehört auch das Selfie dazu. Von Ryan McGinley, der mit seinem @botticelliangels, wie sein Boyfriend auf Instagram heißt, am liebsten für Selfies rumknutscht. Und jetzt auch von Michael Stipe, der ganz offenbar einen diebischen Freude daran hat, mit Promi, nach Promi, nach Promi für Selfies zu posieren. Immer voller Bewunderung. Und weil Selbstvermarktung in den sozialen Medien alles ist, promotet er seine Kollegen gleich mit – wie Courtney Love, die sei nämlich eine großartige amerikanische Songwriterin und eine Ikone, schreibt er in die Bildunterschrift.
Im kurzen Film zur Ausstellung benennt Thorsten Brinkmann das Problem, das zu seinem Selbstporträt bis über die Gürtellinie im Karton aus dem Jahr 2006 mit dem einfachen Titel "Brinkmann" geführt hat. Als Künstler wolle er nicht im Vordergrund stehen, nicht mit seiner Person, denn als Person wolle er nicht interessant sein, interessant solle seine Arbeit sein. Deshalb also Karton über den Kopf und lässig an der Wand lehnen mit zerschlissener Jeans und leicht mitgenommenen Turnschuhen. Natürlich steht dort nur eine Installation, die aber sieht auf den ersten Blick täuschend echt aus. Der Künstler muss sowieso schon ständig und überall gleichzeitig sein, Artist Talk hier, Ausstellungseröffnung da, natürlich mit großer Ankündigung "The Artist is present". Da muss der Künstler nicht auch noch im Werk present sein.
Erwin Wurm versteckt sich gar nicht erst, er hat einfach nur ein völlig anderes Bild von sich selbst. Das Plakat zur Ausstellung ziert das Selbstporträt von Erwin Wurm. Das Ich auf dem Plakat ist durchgestrichen, denn wie wir seit Arthur Rimbaud wissen: Ich ist ein anderer. Und seit den französischen Poststrukturalisten ist bekannt, dass das Subjekt so einfach nicht darstellbar ist. Bei Erwin Wurm ist Ich eine Essiggurke. Oder viele. Im Ausstellungsraum stehen auf unterschiedlich hohen Sockeln Essiggurken, einzeln, in unterschiedlichen Größen. Mit seiner Arbeit "Selbstporträt als Essiggurkerl" aus dem Jahr 2008 reagiert Erwin Wurm auf das alte Sprichwort: Man ist, was man isst. Er, der als Kind viele Essiggurken gegessen hat, sieht sich jetzt eben als Gurke. Worüber er nicht spricht, was aber immer mitschwingt: Gurke als Phallus, Gurke als Sexspielzeug. Der Künstler also als Verkörperung des Sexus?
Andere Künstler wählen andere Stellvertretermedien, um sich selbst zu porträtieren. Alicija Kwade zerlegt den menschlichen Körper in die chemischen Elemente, aus denen er zusammengesetzt ist. 23 Elemente an der Zahl, die sie in 22 Phiolen an der Wand als ihr "Selbstporträt" aus dem Jahr 2015 präsentiert. Chlor und Kalium mussten zur chemischen Verbindung Kaliumchlorid zusammengefasst werden. Der Mensch, als das was er ist: Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff usf. Der Künstler, ein Mensch und doch viel mehr, denn die Künstlerin hängt ja da, im White Cube. Ryan Gander derweil besinnt sich in seinem Werk auf seine Tätigkeit als Künstler, nur zeigt er statt des fertigen Selbstporträts die Paletten in Form von Glasscheiben, die er zum Malen verwendete. Die Selbstporträts will er zerstört haben, deshalb die 31-teilige Installation mit dem Titel "Self-Portrait IX" von 2012.
Der 1980 geborene Künstler Florian Meisenberg hat ein überlebensgroßes Smartphone am Ende des Ausstellungsparcours aufgestellt, davor eine grüne Liegeweise, damit der Besucher bequem liegt, wenn er verfolgt, was auf dem Bildschirm geschieht. Manchmal ist das nicht viel, dann nämlich, wenn Meisenberg gerade nicht auf seinem Smartphone herumtippt. "Out of Office" heißt die Arbeit, die aus der Online-Aktivität von Florian Meisenberg besteht, der im übertragenen Sinne permanent im Atelier ist. Das Smartphone in der Ausstellung zeigt mit etwa zehn Sekunden Verzögerung, was er so damit macht.
Während der Pressekonferenz noch saß er selbst auf der etwas zu saftig grünen Wiese, sprach über seine Arbeit, die für ihn ein Experiment sei, er wolle einmal schauen, ob er irgendetwas anders machen würde, wo ihm jetzt schließlich jeder zuschauen könne, und vermietet nebenbei seine Wohnung in New York unter. Die Arbeit ist auch im digitalen Raum abrufbar, über die Website der Schirn Kunsthalle. Ein Selbstporträt also, das aus den persönlichen digitalen Daten des Künstlers besteht und keinen Unterschied mehr kennt zwischen privat und öffentlich. The Artist ist nicht nur present – The Artist is transparent. Und Selfies macht er auch, aber nur auf Instagram.