"IKB", "International Klein Blue", nannte der Avantgarde-Maler Yves Klein sein Blau, dessen trockene Pigmentstruktur so empfindlich ist, dass die Bilder heutzutage mit Glasscheiben geschützt werden müssen – auch vor den tastenden Händen der Besucher. Und nun das: Die neue Ausstellung im Museum Tinguely in Basel heißt "Prière de Toucher – der Tastsinn in der Kunst". Ein "Parcours lädt zu direkten taktilen Erfahrungen ein", mit Werken von Marcel Duchamp, Man Ray und Yves Klein. Eine Schau ohne Berührungsverbot?
Gleich in einem der ersten Räume kommen die Hände der Besucher zum Einsatz. Mit verbundenen Augen – und mit Handschuhen! – dürfen Gipsabdrücke von antiken Skulpturen abgetastet werden. Ganz anders erschließen sich die männlichen Akte dem Auge nach dieser Fühlerfahrung. Details werden sichtbarer, Materialität präsenter.
Auf der Suche nach Kleins Werken durch die 22 Räume umfassende Schau streifend, kommt man jedoch wieder vor einer Glasscheibe zum Stehen. Die Abdrücke auf der "Anthropométrie sans titre" leuchten anziehend blau. Daneben wird das Video der Performance von 1960 abgespielt. Nackte Frauen reiben sich mit Farbe ein und rollen immer wieder über die Leinwand. Vor einem anderen Werk Yves Kleins, der "Sculpture Tactile", verläuft ein schwarzer Klebestreifen auf dem Boden. "Please don’t touch", liest man. Auch die über 40 Filme, die in der Ausstellung gezeigt werden, stimulieren eher den Sehnerv als die Fingerspitzen.
"Die tastenden Eigenschaften des Mediums Film" hätten ihn besonders fasziniert, erklärt Museumsdirektor Roland Wetzel, der die Ausstellung in Zusammenarbeit mit Lisa Ahlers und Eva Dietrich kuratiert hat. Das erste Werk, das die Besucher zu sehen bekommen, ist deshalb Javier Telléz' Film "Letter on the Blind, For the Use of Those Who See" von 2007. Hautnah verfolgt die Kamera die tastenden Hände von sechs blinden New Yorkern, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Elefanten berühren. Langsam tasten sich ihre Finger über lederne Haut und drahtige Haare. Leise schnaubt der Elefant. Um sie herum: ein leeres Schwimmbad. Der scharfe Graufilter der Kamera filmt einzigartige Bilder, die es den Ausstellungsbesuchern in den Fingern kribbeln lassen. Auch das Video "Spring Time" von 2010/11 beweist die Feststellung des Kurators. Auf der Suche nach ihrer Königin krabbeln über 200 000 Bienen über den Körper des niederländischen Künstlers Jeroen Eisinga.
Diesen zeitgenössischen Filmen sind eine große Anzahl von Performance-Dokumentationen der 60er-, 70er- und 80er-Jahre zur Seite gestellt. In einer Art Studienraum sind die Monumente der politischen Körperkunst versammelt: Valie Exports "Tapp- und Tastkino", Chris Burdens "Shoot", Bruce Naumans "Wall/Floor Positions", Videos von Marina Abramović und Vito Acconci. Sicher, es geht auch um Berührung, wenn Gina Pane sich in "Le lait chaud" mit Rasierklingen blutig ritzt. Aber eröffnen sich hier wirklich neue Lesarten dieser mittlerweile beinahe schon fetischisierten Kunstrichtung, wenn sie unter dem Aspekt "taktile Erfahrung" betrachtet werden?
"Das ist immer so eine Sache in solchen Ausstellungen", sagt auch die polnische Künstlerin Ewa Partum beim Schlendern durch die Säle. 1974 zog sie mit ihrer Performance "Change" die Aufmerksamkeit auf sich. Stundenlang wurde die Hälfte ihres nackten Körpers vor Publikum "alt" geschminkt. Sie erklärte ihren Körper zum "Kunstwerk" und stellte ihn dem feministischen Diskurs "zur Verfügung". "Mir ging es natürlich überhaupt nicht um den physischen Kontakt. Das Einzige, was ich berühren wollte, war vielleicht die Gesellschaft."
Soll der Ausstellungsname, der ein Wortspiel mit dem französischen "Prière de ne pas toucher" ("Bitte nicht berühren") ist, also gar nicht wörtlich genommen werden? Er ist inspiriert von einem Werk Marcel Duchamps. Für den Katalog einer Surrealisten-Ausstellung entwarf dieser 1947 ein Buchcover mit einer weiblichen Schaumgummi-Brust darauf. Auf der Rückseite prangte die provokative Aufforderung, die das museale Berührungsverbot ironisch subversierte. Doch wieder befindet sich das Werk im Museum Tinguely im Glaskasten.
Welch komplexe Erfahrungen taktile Reize im menschlichen Körper auslösen, das erfährt man in dieser Ausstellung vor allem durch die Werke junger, zeitgenössischer Künstler. Mit "Cuerpomático II" (2015) erfand Pedro Reyes einen Werkzeugkasten, dessen Inhalt die Besucher an sich selbst ausprobieren dürfen – auch Kindheitserinnerungen werden beim Herumspielen mit Wäscheklammern und Stethoskopen wach. Louis-Philippe Demers gesichtsloser "Blind Robot" (2012) berührt die Besucher nicht nur mit vorsichtig tastenden Fingern im Gesicht, sondern auch auf emotionaler Ebene.
Ganz deutlich spiegelt "Prière de Toucher" wider, dass die Musealisierung von Kunstwerken im Wesentlichen durch das Belegen mit Berührungsverboten geschieht. So dürfen die Arbeiten, die sich der Kanon bereits einverleibt hat, auch hier nur mit Abstand betrachtet werden. Kritisch hinterfragt wird das im Museum Tinguely höchstens ansatzweise. Die "Hommage an Dylaby" beispielsweise ist ein Reenactment eines Experiments im Stedelijk Museum von 1962. Jean Tinguely, Daniel Spoerri, Robert Rauschenberg und andere Künstler schufen damals für die Besucher einen mit weißen Luftballons gefüllten Raum. Der sollte laut Tinguely zur "Entmuseifizierung der Museen" beitragen.
Dass ein vollständiges Verwerfen des Berührungsverbots im Museum aus konservatorischer Perspektive Wahnsinn wäre, versteht sich von selbst. So geht es in "Prière de Toucher" auch weniger um das bloße Anfassen von Kunstwerken, sondern vielmehr um die Erforschung des Sehsinns, der von anderen Sinnen ergänzt wird. Die Ausstellung ermöglicht so eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Sehen auf einer taktilen und auf einer intellektuellen Ebene.
Im letzten Raum fällt dann aber doch jedes Berührungsverbot unter den Tisch. Hier erwartet die Besucher ein Nachbau von Yves Kleins "Sculpture Tactique". Und vor dieser äußerst sinnlichen Tasterfahrung schützt die Besucher wirklich keine Glasscheibe.