Zwei ältere Damen stehen in der Retrospektive von Stephen Shore im C/O Berlin und schauen auf die große Leinwand, die seinen Instagram-Account abbildet. Ihre Finger fahren immer wieder aufgeregt in die Luft, zeigen auf Bilder, die im nächsten Augenblick schon nicht mehr zu sehen sind.
"Instagram, das habe ich schon einmal gehört."
"Ach, guck mal, das ist er vielleicht. Der auf dem Bild da sieht aus wie Stephen Shore."
"Ja, also Instagram, das habe ich noch nie verstanden. Was soll ich damit? Wer soll sich denn meine Bilder ansehen?"
"Ah, da, ein Fisch. Oh, jetzt ist er wieder weg!"
"Ach, guck mal, was steht denn da? Oben rechts?"
"Follow. Folgen sollst Du ihm."
Eine Etage tiefer bei den Schließfächern unterhalten sich zwei Digital Natives sachverständig. Prints brauche heute niemand mehr, schließlich sei alles digital vorhanden. Das reicht. Völlig. Die beiden sind sich einig. Und der Kurator der Ausstellung, Felix Hoffmann, ist entzückt, dass diese Retrospektive die erste für ihn ist, die während der Eröffnung entstandene Fotos zeigen kann und sogar während der gesamten Laufzeit aktualisiert wird.
Der Fotograf Stephen Shore hat sein Smartphone immer griffbereit in der Jackentasche. Bei seiner Lecture im fast ausverkauften Delphi Filmpalast am Tag nach der Eröffnung sagt er, dass Fotografen früher ihre Kamera um den Hals hängen haben mussten. Heute, ein Griff in die Jackentasche. Das Smartphone ersetzt die Kamera. Vielleicht sollte man ergänzen, für den, der es möchte. Der Magnum-Fotograf Thomas Höpker ist noch immer mit der Kamera um den Hals unterwegs, hält sie fest in beiden Händen, schaut unentwegt durch den Sucher. So konnte man ihn auf der Paris Photo vergangenes Jahr sehen.
Aus Stephen Shores Jackentasche lugt eine lila Smartphonehülle, die sogar das leichte Gerät ein wenig nach unten zieht. Während der Pressekonferenz geht er filmend an den Reihen der Journalisten und Kameraleute entlang, er fotografiert die Fotografierenden. Wenn ihm jemand mit der Kamera zu nahe kommt, hält er gelegentlich mit seinem Smartphone dagegen. All diese Fotos und Videos haben es nicht auf seinen Instagram-Account geschafft. Abends, während der Eröffnung der Ausstellung, nimmt er hin und wieder sein Smartphone in die Hand, um Fotos von den Besuchern zu machen. Noch während der Veranstaltung postet er eins davon, zwei weitere Bilder folgen, dann ist die Serie vom Eröffnungsabend abgeschlossen. Eine Frau hat er fotografiert, gelber Rock, schwarzer Nagellack, schwarzer Rollkragenpullover, sie kauert am Boden, er stand hinter ihr, als er das Foto gemacht hat. Die Umstehenden sind angeschnitten, eine Schuhspitze ragt von links ins Bild.
In der Woche nach der Eröffnung übernimmt er den Instagram-Account des C/O Berlin. Es wird angekündigt, dass Stephen Shore Bilder von seinem Aufenthalt in Berlin zeigen wird; was folgt sind Fotos, die während seiner Anwesenheit im C/O Berlin entstanden sind. Und nach jedem Foto, das gepostet wird, wundert man sich ein wenig mehr und fragt sich, ob Stephen Shore vielleicht das Fotografieren verlernt hat – warum nur, ist das alles an Unbeholfenheit scheinbar kaum zu übertreffen? Gut gesehen, ruft hier niemand in den Kommentaren dazwischen, dafür sind die Bildausschnitte zu wahllos gewählt. Stattdessen meist Schweigen im Kommentarbereich.
Seit fast einem Jahr erzählt Stephen Shore in Interviews, dass er sich bis auf Weiteres auf Instagram konzentriert. Auf Instagram liege sein Fokus. Das versichert er im Anschluss an seine Lecture auch Melinda Crane im Gespräch, die ihn nach seinen Plänen für kommende Projekte befragt. Aus dem Publikum kommt die Frage, wie er es denn schaffe, herauszustechen, auf sich aufmerksam zu machen, schließlich nutzen noch weitere 400 Millionen Menschen die App. Das interessiere ihn gar nicht, antwortet er, er mache nur seine Arbeit. Ihm sei zwar bewusst, dass Instagram sehr unterschiedlich genutzt werden könne, für Selfies oder für Werbezwecke beispielsweise, er selbst interessiere sich aber ausschließlich für Fotografen, die täglich Bilder für Instagram machen und nicht nur ein Best of aus ihrem Archiv posten. Namen nennt er selbst nicht. Aber auf Martin Parr trifft das Gesagte zu. "New and old work coming from the Martin Parr Studio" steht in der Profilbeschreibung des Instagram-Accounts, der als @martinparrstudio aktiv ist. Neues ist dort nicht viel zu sehen, hier und da wird mal ein Foto aus dem Archiv mit Hintergrundinformationen gepostet, das war’s. Den Account gibt es noch nicht sehr lange, seit 16 Wochen ist er aktiv.
Während der Paris Photo letztes Jahr hatte ich die Gelegenheit, Martin Parr zu fragen, wie denn die Lage so sei, er und Instagram, Essensfotografie, das sei dort immerhin ein großes Thema. Er lachte nur und sagte, das brauche er nicht. Instagram würde alles noch schlimmer machen, schließlich würden ihm jetzt schon zehn Leute am Tag schreiben, die etwas von ihm wollen. Und Bruce Gilden, ein anderer Magnum-Fotograf, der bereits auf Instagram unterwegs ist, gestand, dass er zum Ärger seiner Frau nicht einmal E-Mails beantworten könne. Jemand kümmere sich in Abstimmung mit ihm um die Auswahl der Bilder für Instagram. Für professionelle Fotografen wird das soziale Fotonetzwerk gern zur verlängerten Website. Anders Stephen Shore. Er ist vertraut mit den Gepflogenheiten der Plattform, Bilder aus dem Archiv gibt es von ihm nur donnerstags passend zum Hashtag #tbt zu sehen. Am Throwback Thursday also, wenn alle in den sozialen Medien nostalgisch in Erinnerungen an bessere Zeiten schwelgen.
Donnerstags holt er gern Bilder hervor, die er ganz zu Beginn seiner Karriere als Fotograf in der Factory von Andy Warhol gemacht hat, 1965 war das. Drei Jahre lang war er regelmäßig dort, eine Zeit lang sogar täglich, er sah zu, wie Warhol selbst fleißig und konzentriert arbeitete, während dessen Entourage den ganzen Tag auf dem Sofa sitzend Löcher in die Luft starrte und wartete, bis es abends zur nächsten Party ging. Seine Zeit in der Factory ist es auch, die ihn als Fotografen entscheidend geprägt hat, erzählt er während seiner Lecture. Oft konnte er Warhols ästhetischem Entscheidungsprozess beiwohnen und so von ihm lernen. Als er die Factory schließlich verließ, versuchte er zunächst konzeptuell unter dem Einfluss von Warhols serieller Bildsprache zu arbeiten. Er fotografierte 24 Stunden lang einen Freund jede halbe und volle Stunde, um bestimmte Entscheidungen nicht selbst treffen zu müssen. Aber diese Arbeitsweise lag ihm nicht, also experimentierte er weiter. Mit einer Mick-o-Matic, einer Kamera in Form eines Mickey-Mouse-Kopfes, mit Polaroid und mit Schnappschüssen allgemein.
Das quadratische Format von Polaroid und die Snapshots, die er im Labor von Kodak entwickeln ließ, sind für ihn auch das Bindeglied zu Instagram heute. Nachdem er lange Jahre nicht mehr gezwungen war, sich formal beschränken zu müssen, stellte ihn das quadratische Format von Instagram vor eine neue Herausforderung. Der Fotograf Stephen Shore möchte nicht auf der Stelle treten, das machte er zu Beginn seiner Lecture deutlich. Er erzählt von einer Begegnung mit einem betrunkenen Anselm Adams. Der trank bei einem gemeinsamen Abendessen sechs Gläser puren Wodka und sagte irgendwann, nicht einmal enttäuscht oder gekränkt, dass er seinen Zenit längst überschritten habe und sich inzwischen als Auftragskünstler verdinge. Er selbst möchte mit 85 Jahren im Gespräch mit einem 25-Jährigen nicht so auf seine Errungenschaften blicken müssen, folglich bleibt er konstant in Bewegung und macht mit fast 70 Jahren, was heute so gut wie jeder 25-Jährige macht. Er nutzt sein Smartphone als Kamera und teilt seine Fotos auf Instagram.
Als Shore in den 70er Jahren auf seinen Roadtrips durch Amerika jedes Essen, jede Toilette, jedes Bett, jeden Fernsehapparat und jedes Restaurant fotografierte, baute er Fehler in seine Fotos ein; er warf selbst einen Schatten oder überblendete das Bild mit Blitzlicht, damit es aussieht, als wäre ein Amateur am Werk gewesen. Vielleicht ein Tourist, der festhält, was er auf Reisen erlebt. Snapshotness nannte Shore das, was er versuchte stilistisch zu erreichen. Seine Schnapshots sollten aussehen wie die besten Schnappschüsse überhaupt. Anonym sollte alles an ihnen sein, der Inhalt und der Stil, sie sollten wie beiläufig entstanden wirken. Und heute? Heute versucht er, so meine Beobachtung, zu fotografieren, wie die beiden älteren Damen, die schon einmal von Instagram gehört haben, die bestimmt ihr Smartphone nutzen, um ihre Enkel via WhatsApp auf dem Laufenden zu halten, die Fotos machen, wo sie gerade sind. Und die ihre Bilder versenden, wie sie nach einem Daumendruck eben aussehen, beiläufig und irgendwie so, dass sich das Enkelkind fragt, was Oma da eigentlich Besonderes gesehen haben will.
Stephen Shore. Retrospektive. C/O Berlin, bis 22. Mai 2016. Der Katalog ist im Kehrer Verlag erschienen und kostet 49,90 Euro