Jens Hinrichsens Berlinale-Tagebuch

Sie bekommen Flügel wie Adler

In den ersten Tagen eines Festivals sind die Kritiker noch frisch, und manch einer schlägt über die Stränge. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Das gibt sich. Wenn du über die ersten 15 Filme drüber bist, wirst du pragmatisch. Filme sind nur Filme. In ihnen sind seltener wichtige Botschaften versteckt als du denkst. Man kann zufrieden sein, wenn ein Film wie ein besserer Roman von Ian McEwan ist, elegant und fesselnd erzählt. Muss es gleich die Bibel sein?

Nach dem ersten Festivaldrittel hört man zum Beispiel auf, Filmen lange hinterherzugrübeln. Vielleicht ist Denis Côtés Wettbewerbsfilm "Boris sans Béatrice" ja ein unglaublich komplexer Film über die Melancholie – einer kanadischen Ministerin, die aufgrund ihrer schweren Depression amtsunfähig und schweigend in ihrem Landhaus verharrt. Wahrscheinlicher ist aber das: Die Hauptfigur, der Mann der Ministerin, erweist sich als egozentrisches Arschloch und verdient es womöglich gar nicht, Protagonist eines Spielfilms zu sein. Die Wandlung dieses Boris Malinowsky zum fürsorglichen Ehemann steht im Vordergrund, während seine Frau nur daliegt oder in unruhigen Nächten durch die Villa wandelt. Der angeblich einsetzende Reifeprozess des Mannes bleibt bloße Behauptung. Ein geheimnisvoll-furchteinflößender Weiser im orientalischen Seidenhemd taucht auf, um Boris einzubläuen, er müsse sein Leben ändern. Irgendwann hat der wie aus einem David-Lynch-Thriller gekrochener Guru den sturen Boris da, wo er ihn haben will. Bis dahin sind so einige arg filmkunstgewerbliche Minuten verstrichen. Flop.

Aber es liefen auch schon gute Filme im noch jungen Berlinale-Wettbewerb. Zum Beispiel "Midnight Special" des Amerikaners Jeff Nichols. Ein Vater entführt seinen eigenen Jungen, einen Achtjährigen mit übernatürlichen Gaben. Eine evangelikale Glaubensgemeinschaft ist ebenso hinter dem Kind her wie FBI und NSA. Je weiter die packend-originelle Kreuzung aus Road-Movie und Science-Fiction-Thriller voranschreitet, desto deutlicher wird, das sowohl die Ultra-Religiösen – sie wollen ihren vermeintlichen neuen Christus wiederhaben – als auch die von Sicherheitswahn getriebenen Behörden Unrecht haben. Tolle Schauspieler sind dabei: Michael Shannon, Joel Edgerton, Kirsten Dunst, Sam Shepard und Adam Driver, kürzlich als Kylo Ren in "Star Wars 7" (und diesmal ganz ohne Maske) zu sehen. Niemand kann so begriffsstutzig gucken wie Driver. Mit unnachahmlicher Mimik verkörpert er einen NSA-Mann, der zunächst gegen die Gesuchten ermittelt und dann – sozusagen erleuchtet – ihnen zur weiteren Flucht verhilft. Vom Saulus zum Paulus. Ein Zufall, dass die Figur Paul heißt? Außerdem hat mich der Überwachungsspezialist auf Abwegen doch sehr an Edward Snowden erinnert. Meine Kollegin meinte: "Total überinterpretiert!" Wahrscheinlich hat sie recht. Sag’ ich ja. Man neigt zu Übertreibungen, wird aber bald abgeklärter.

Beim Eröffnungsfilm der Coen-Brüder war es noch schlimmer. Aber die Hollywod-Persiflage "Hail, Caesar!" ist auch derart voller Kino-Zitate, dass man sich für die DVD-Ausgabe sehnlichst einen Regiekommentar auf einer Extratonspur wünscht. Die Badenixe Esther Willams trifft Hitchcock trifft Pasolini (!) trifft Gene Kelly. Und so weiter. Lange herumgekaut habe ich an dem fiktiven Filmtitel "On Wings as Eagles". George Clooneys Figur, ein großer Star und Einfaltspinsel, hat in einem Film dieses Namens einmal die Hauptrolle gespielt. Um "On Wings as Eagles" häufen sich Gerüchte. Man erfährt aber erst am Ende, was es damit auf sich hat. "On Wings as Eagles" ist ja erstmal ein völlig absurder Satz. Was soll das heißen? Meine Filmhistorikerbirne gerät also ins Flackern und ich verfalle dem Kurzschluss, dass die Coens eine Verballhornung des Howard-Hawks-Klassikers "Only Angels have Wings" im Sinn hatten. Immerhin spielte dort Cary Grant die Hauptrolle, mit dem Clooney ja gern verglichen wird. Das ist wohl Quatsch. Ich habe das mit den Flügeln jetzt in eine Suchmaschine eingegeben: "They will soar on wings as eagles", heißt es in der Bibel, Jesaja 40,31: "Die aber, die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt." Das ist, bei allen Irrungen und Wirrungen eines Berlinale-Tages, doch ein schönes Motto für das größte – und manchmal auch anstrengendste – deutsche Filmfestival.