Ein wenig zuckte ich zusammen, als auf Twitter die Ankündigung für den nächsten Tag des #museumselfie in meiner Timeline an mir vorbeirauschen wollte. Kurz innehalten, Terminkalender hervorkramen und mit rotem Filzstift #NoMuseumSelfie für den 20. Januar 2016 notieren.
Das amerikanische Kunstblog Hyperallergic schickte schon letztes Jahr Stoßgebete in die Weiten des Webs, aber die Klagelaute wurden ganz offenbar freundlich überhört. Der Autor fragte sich schon damals, vor knapp elf Monaten, womit man das alles verdient habe, diesen einen Tag, an dem die Menschen mit größter Freude in die Museen stürmen, sich vor Kunstwerken aufbauen, nur um eine Flut scheußlicher Fotos mit noch scheußlicheren Filtern über die sozialen Netzwerke hereinbrechen zu lassen. Schnell war der Schuldige gefunden. Ein Kunstkritiker. Brian Droitcour. Der nahm die Schuld nur allzugern auf sich und twitterte:
Da hatte er etwas angerichtet, meint er, als er im Dezember 2012 für das Künstlerkollektiv DIS das Hashtag #artselfie definierte. Pünktlich zur Art Basel Miami Beach ging der Tumblr zum Hashtag online, der alle Beiträge archivierte. Zwei Jahre später wurde daraus ein Buch und inzwischen steht der Tumblr still. Die letzten Beiträge sind vom November 2014. Das #artselfie war also nicht schon immer verpönt. Und wurde auch nicht schon immer verhöhnt.
Droitcour wunderte sich bereits, als er das #artselfie versuchte zu definieren, wie schnell aus seinem Gedanken, sich selbst in einem Kunstwerk mit spiegelnden Oberflächen zu fotografieren, etwas anderes wurde. Verständnisvoll lenkte er ein: "I know how memes work!" Aber nur um dann doch noch einmal schnell voller Hoffnung darum zu bitten, an seine ursprüngliche Idee zu denken und Ausschau nach spiegelnden Oberflächen zu halten. Wie es wohl gemeint war:
Mittlerweile gibt es eine Reihe von Hashtags für Fotos, auf denen jemand mit der Kunst interagiert. #musepose, wenn Museumsbesucher die Pose des Kunstwerks imitieren, das #museumofselfies sammelt Fotos von Kunstwerken, denen ein Smartphone vors Gesicht gehalten wird, und #artwatchers sind Menschen, die sich gerade Kunst angucken und dabei fotografiert werden. Ähnlich wie die Museumsbesucher in der Serie "Museum Photographs" von Thomas Struth. Immer geht es um eine Interaktion zwischen musealem Raum, Exponaten und Besuchern oder eben nur um eine Interaktion zwischen Mensch und Kunstwerk.
Bei DIS freute man sich einst über diese Interventionen in den Museen; man fand das wohl alles irgendwie anarchisch. Menschen, die in die Museen gehen und dort meist verbotenerweise mit Kunstwerken im Hintergrund Fotos machen und in den sozialen Netzwerken teilen. Macht der Museumsbesucher ein #artselfie, bringt er das Kunstwerk in einen neuen Kontext, wird selbst zum Kurator, wie Marvin Jordan in der Einführung des Buches zum Hashtag schreibt. Und Douglas Coupland hat dort sogar behauptet, das #artselfie löse eine Menge Probleme: "Es sind Sie selbst plus ... Kunst! Irgendwie. Es ist zwar ein Selfie, nur befindet sich, statt des Instagram-Filters, der über einem normalen Selfie liegt, die exklusive Markensemiotik im Bild selbst."
Dem Pop-Philosophen Byung-Chul Han stehen bei solchen Worten vermutlich die Schweißperlen auf der Stirn, immerhin hat er sich gerade alle Mühe gegeben, dem eh schon belächelten Massenphänomen Selfie jegliche Daseinsberechtigung abzusprechen. Leer, alles leer, alle leer, Leerlauf des Ich, innere Leere, leere Gesichter, das Selbst in Leerformen. Wenn man ihn selbst zu Wort kommen lässt, klingt seine Rede vom negativen Narzissmus, der das Gegenteil von narzisstischer Selbstverliebtheit sein soll, etwas besonnener – nur wird sie dadurch nicht richtiger: "Die Selfie-Sucht verweist auf die innere Leere des Ich." Das Gesicht wirke heute in sich gefangen, werde selbstreferentiell, sei nicht mehr welthaltig. Für Coupland ist mit der welthaltigen Kunst im Hintergrund das Problem gelöst. Han würde vermutlich weiter schimpfen, wenn es sich um einen Jeff Koons handelt, denn dessen Werke sind für ihn der Inbegriff einer "Kunst des Like". Einer Kunst, die ohne Urteil, Reflexion und Interpretation auskommt.
Und was machen die Museen? Sie liefern künstliche Hintergründe. Mit Selfie-Stationen, die an Budenzauber auf dem Jahrmarkt erinnern. Aus lauter Verlegenheit, wenn das Fotografieren in einer Sonderausstellung verboten ist. Weil sie denken, man tue den Besuchern einen Gefallen, wenn zumindest an einer Stelle das Fotografieren offiziell erlaubt ist. Und während das Selfie längst der Gartenzwerg der sozialen Medien ist, werden Selfie-Stationen für Museum oder Art Selfies zum Klassenclown.