Die Moderne geht an Krücken. Ob Post-, Neo- oder Hyper-: In den vergangenen Jahrzehnten hat sie sich nur noch mithilfe von Präfixen fortbewegt. Es scheint also an der Zeit, den Begriff als Relikt zu verstehen. Und doch: Ist die fortschreitende Eventisierung der Kunst etwa kein "modernes" Phänomen? Und wollen heutige Künstler nicht das Gleiche wie jene von früher, nämlich Bruch und Erneuerung?
"La vie moderne" lautet das Thema der 13. Lyon-Biennale. Der diesjährige Gastkurator Ralph Rugoff, Direktor der Hayward Gallery in London, benutzt den Begriff als Brille, um den Blick auf das "Wesen unserer Gegenwart" zu richten. Das scharfe Gesamtbild, das die Arbeiten der rund 60 Künstler in Lyon erzeugen, ist auch der hervorragenden Dramaturgie der Schau zu verdanken, die sich über das Museum für zeitgenössische Kunst MAC, die Sucrière mit ihrem Industriecharme und das kürzlich eröffnete Musée des Confluences erstreckt. Am dichtesten stehen dort die Besucher vor den Videoarbeiten, bei denen neueste Surround-, HD-, und 3-D-Techniken ganz selbstverständlich eingesetzt werden.
Bei "Before Memory" des Taiwanesen Yuan Goang-Ming blitzt es etwa von vier Wänden gleichzeitig, dazwischen bohrt sich eine unheimliche elektrische Spannung ins Ohr, dann Flüstern. Es folgen Aufnahmen einer Stadt, die keine mehr ist, von einem Gebäude im Hinterland von Taipeh, wo umgekippte Säulen und am Boden liegende Telefonhörer vom Bauboom erzählen. Es ist die poetische
Verarbeitung einer Recherche: Das Kameraauge schwebt, fokussiert auf nichts und verrät doch alles. Die Schnitte zeugen vom Ausfall eines Systems. Und wir sind mitten drin. Es ist nicht der einzige Wow-Moment dieser Schau, die das bietet, was der Hauptausstellung der Venedig-Biennale gefehlt hat: ein gemeinsamer Puls und Luft zwischen den Werken.
Da ist Konfrontation, wie bei dem Griechen Andreas Lolis, dessen Nachbau einer Notunterkunft sich als Luxus entpuppt – selbst die Pappkartons bestehen in dieser umgekehrten Arte povera aus Marmor. Überwachung, wie beim Franzosen Céleste Boursier-Mougenot, der Kirschkerne auf ein Schlagzeug prasseln lässt, ausgelöst durch die elektromagnetische Strahlung der Besucherhandys. Da sind all die ambivalenten Gefühle, die unsere Gegenwart gebiert, Orientierungslosigkeit, Irritation. Doch die Biennale-Künstler konzentrieren sich nicht nur auf die Fratze, die sich allerorten zeigt. Man sieht auch viel Schönheit, Hoffnung, Humor. Es sind bewegende Versuche, das Jetzt zu verarbeiten – als hätte die Moderne gerade erst begonnen.